Jäger
Unabhängigkeit
zu verbreiten, führt diese Expedition oft, allzu oft, zum Tod
des größeren Organismus.
»Tumoren streben danach, ihre Grenzen zu sprengen und ewig zu
leben. Sie schwingen das Banner der Freiheit, doch sie bringen nur
Chaos und Tod«, resümierte Flora Ramone. »Wie
unterscheiden wir uns von ihnen? Wenn wir als Individuen
danach streben, länger zu leben, als die Natur es für uns
vorgesehen hat, was tragen wir dann zum Gesamtwohl der Menschheit
bei? Warum diese Suche nach einer neuen Genesis? Sind wir mit
hundertfünfzig Jahren klüger, als wir es mit vierzig waren?
Was, wenn wir den Jungen nur im Weg stehen? Was, wenn wir alle
verfügbaren Ressourcen für uns beanspruchen und unsere
Gesellschaft hungern lassen? Was, wenn wir zugunsten der eigenen
exzentrischen Wünsche das Gesamtwohl außer Acht lassen?
Verhalten wir uns dann – biologisch betrachtet – nicht
ähnlich und ebenso bösartig wie die Tumoren?«
Das Publikum reagierte mit Schweigen auf ihre Schlussfolgerungen.
Nur wenigen gefiel, was sie gerade gehört hatten. Nachdem Dr.
Ramone ein paar feindselige Fragen mit wenig Erfolg beantwortet
hatte, löste sich das Publikum in murmelnde Gruppen auf. Allein
auf dem Podium, ordnete sie mit hochgezogenen Augenbrauen traurig
ihre Papiere auf dem Pult und stieg herab.
Ich sah ihr zähneknirschend nach.
Castler kam, vor Wut schäumend, zu mir herüber.
Ärgerlich schüttelte er seine Komponistenmähne und
warf einen verzweifelten Blick zu den Deckenbalken empor. »Damit
hat sie dem ganzen Nachmittag einen Dämpfer aufgesetzt. Das war
unverzeihlich kurzsichtig. Was ist sie? Eine Marxistin?«
Ich habe Neinsager schon immer gehasst, besonders die, die
für ein Ende der kontroversen Forschung plädieren –
zum angeblich Besseren des Ganzen, kurzfristig betrachtet. Doch was
mich wirklich wütend machte, war, dass ich kein
überzeugendes Argument hatte, um Dr. Ramones ruhige und
unbeirrbare Polemik zu widerlegen.
AYs Äußerungen und Dr. Ramones Vortrag hatten mir alle
Kraft geraubt. Ein langer Spaziergang durch Berkeley, bevor ich in
meine Wohnung zurückkehrte, erschien mir als das beste Mittel
gegen meine Niedergeschlagenheit. Ich strebte auf die dunklen
Eichentüren am Ausgang des Saales zu.
»Hal Cousins?«
Ein Schatten löste sich aus der Ecke und kam auf mich zu.
Meine erste, instinktive Reaktion war, zurückzuweichen, doch ich
hatte weder Platz noch Zeit dafür. Der Schatten trat in ein
helles Viereck, das die Nachmittagssonne über den Fußboden
warf, und entpuppte sich als ein kleingewachsener, gut aussehender
Mann in den Fünfzigern mit grauen Schläfen, einer kühn
gebogenen Nase und dichten, perfekt geschwungenen, aristokratisch
wirkenden Augenbrauen. Er trug einen schäbigen, abgewetzten
Tweed-Anzug mit ausgefransten Ärmeln, ein einstmals teures
Leinenhemd, dessen Kragen vom vielen Bügeln durchgescheuert war,
und braune, blank geputzte Halbschuhe mit nach oben stehenden Kuppen.
Unter seinem zugeknöpften Jackett verbarg er irgendetwas, das
die Brust vorne leicht ausbeulte.
»Sie hätten nicht hierher kommen dürfen«,
sagte er. »Hier fallen Sie viel zu sehr auf.« Sein Akzent
war schwer einzuordnen – Englisch mit leicht
osteuropäischem Einschlag, vermutete ich. An der linken Hand
trug er einen vom Handgelenk bis zu den Fingerwurzeln reichenden
Verband, der von einer Metallklammer zusammengehalten wurde. Als er
meinen Blick bemerkte, verstaute er die Hand fest in der
Jackentasche. »Ihr Bruder hat meinen Namen möglicherweise
erwähnt. Ich bin K. Wollen wir… von hier
verschwinden?« Er spreizte den Ellbogen wie einen
verstümmelten Flügel ab. »Am besten suchen wir uns ein
stilles Plätzchen, wo wir in Ruhe reden können. Wir
stoßen auf Ihren Bruder an und versuchen, uns zu
betrinken.«
Kapitel 20
»Alles Hochprozentige ist ideal«, erklärte K und
verzog das Gesicht, als wir uns an einem Tisch in einer hinteren
Nische des Pascal, einer Kneipe in der College Avenue,
niederließen.
In dem düsteren Raum, der nur durch ein paar kleine Lampen
mit Pergamentschirmen und das winzige Oberlicht in der
kupferverkleideten Decke erhellt wurde, roch es nach Bier und den
Sägespänen, mit denen der Ziegelboden bestreut war.
»Wein ist auch noch akzeptabel«, fügte er hinzu.
»Bier… nicht sehr verlässlich. Wasser ist verboten, es
sei denn, wir kaufen es hermetisch verschlossen und jedes Mal in
einem anderen Laden. Ahnen Sie den Grund?«
»Gift?«, mutmaßte ich.
Erneut
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