Jäger
angerufen?«, fragte
ich.
Er verdrehte die Augen nach oben und hustete leise in sein
Taschentuch. Bettina warf mir einen verärgerten Blick zu. Wie
können Sie es wagen, ihn so aufzuregen. Wie können Sie es
wagen, einen kranken alten Mann so zu provozieren. Und sie hatte
Recht damit, doch ich wollte es unbedingt von ihm erfahren.
»Ich kann mich an keinen Dr. Mauritz erinnern«,
flüsterte er, als er wieder genügend Luft bekam. »Aber wahrscheinlich habe ich ihn wirklich angerufen. Man hat mir
aufgetragen, eine ganze Reihe von Leuten anzurufen.« AY machte
eine ungeduldige Handbewegung, als seine Frau erneut versuchte, ihn
zum Schweigen zu bringen, dann tat er so, als würde er den
Zuhörern zuwinken, die in den vorderen Reihen ihre Sitze
einnahmen. »Warum verschwenden Sie Ihre Zeit? Sie gehören
nicht hierher, Henry. Das hier ist ein Treffen talentierter
Dilettanten. Gehen Sie an Ihre wichtige Arbeit, solange Sie es noch
können. Für mich ist das wie eine Heimkehr. Sie feiern mich
und würdigen meinen Einfluss, ignorieren aber alle meine
Warnungen, all meine schwachen, unwirksamen Warnungen.«
»Bitte sei still«, drängte Bettina, jetzt mit mehr
Nachdruck. Er wedelte sie erneut beiseite, beugte sich vor, um einen
Klappstuhl beiseite zu stoßen, und rollte dann näher an
mich heran, während Bettina stehen blieb und, seines Starrsinns
müde, die Arme vor der Brust verschränkte.
AY kam so nah, dass ich sein Flüstern verstehen konnte. Sein
Atem roch nach faulen Zähnen und mangelhafter
Ernährung.
»Ahnen Sie überhaupt, was missgünstige Menschen
Ihnen antun können? Was sie Ihnen wegnehmen können?«
Seine Stimme klang wie zerbröckelndes Knäckebrot. »Ich
bin ein sterbender alter Mann, mich umzubringen lohnt sich nicht.
Für die bin ich nur noch ein nützliches Faktotum. Aber Sie
und Rob, Sie gehören zu den größeren Fischen. Die
wissen, was Sie tun.«
Vier junge Weiße in schwarzen Jeans und zwei asiatische
Mädchen gingen vorüber. Zweifellos gehörten sie zu
Phils Cyberspace-Truppe. Asiatische Freundinnen waren in dieser Szene
unerlässlich. Sie nickten AY mit bewunderndem Lächeln
zu.
Er richtete sich in seinem Stuhl auf und bewegte lautlos die
Lippen, bis sie außer Hörweite waren. Dann wandte er mir
seine Aufmerksamkeit wieder zu und flüsterte mit eindringlicher
Stimme: »Hören Sie sich Flora Ramone an. Sie spricht heute
Nachmittag um drei. Der Rest…« Er machte ein Geräusch
wie ausströmende Luft. »Wie kann man nur glauben, wir
könnten die Zukunft meistern, ohne die Vergangenheit wirklich zu
kennen. Nehmen Sie diese Anrufe nicht entgegen. Nehmen Sie sie
bloß nicht entgegen.«
Ein neuerlicher Hustenanfall schüttelte den Patriarchen der
Langlebigkeit. Bettina schob ihn aus dem Saal, froh, von mir
wegzukommen.
•
Trotz aller intuitiven Vorbehalte blieb ich da und hörte mir
um vier Uhr – die Konferenz hinkte bereits erheblich hinter
ihrem Zeitplan her – den Vortrag von Flora Ramone an.
Sie hielt einen quälend langatmigen und ins Detail gehenden
Vortrag. Im Mittelpunkt stand die soziale Organisation von Zellen in
Neoplasmen – Krebstumoren – und ihr Streben nach
Unsterblichkeit. Langsam kam sie in Fahrt, ihre Augen begannen zu
funkeln.
Die Essenz ihres Vortrags lautete: Wenn Zellen entarten,
lösen sie sich aus der Kontrolle des Gesamtorganismus,
begünstigen das Wachstum von Arterienknoten und fordern
Nährstoffe weit über ihren Bedarf hinaus. Sie vermehren
sich unkontrolliert und weigern sich, Signalen zu gehorchen, die von
ihnen eine klare Identifikation verlangen. Diese Weigerung kommt
einem Selbstmord der Zelle gleich, denn jetzt stößt der
übergeordnete Organismus sie im Eigeninteresse ab.
Tumoren besitzen eine gewisse Arroganz und Anmaßung. Sie
vermehren sich nach ihrem eigenen Willen – Wille war
eines der zentralen Worte in diesem Vortrag. Sie lassen einen eigenen
freien Willen erkennen – unabhängig von einem
größeren Wirtskörper. Die Zellen in den Tumoren
versuchen, ihren eigenen Gesellschaftsverband aufzubauen, doch da sie
sich von den hoch entwickelten Kontrollmechanismen des
größeren Organismus losgesagt haben, kehren sie zu einer
primitiveren und eigennützigeren Spielart biologischer
»Politik« zurück.
Da Tumoren oft nicht imstande sind, sämtliche zu ihnen
gehörende Zellen mit Nährstoffen zu versorgen, kann es zur
Nekrose, zum Zellsterben kommen. Falls sie jedoch Missionare
ausschicken, um das Evangelium der Freiheit und
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