Jagablut
ihre Hand. »Das ist seine Strafe.«
Dann schloss sie die Augen, und auf einmal lächelte sie. »Gott ist gerecht.« Es
klang sehr zufrieden.
»Hansi?«
Aber die alte Frau schien eingeschlafen zu sein und reagierte nicht mehr.
Ihr zartes Gesicht wirkte entspannt und friedlich. Die feinen Linien auf der
weißen Haut waren im Dämmerlicht kaum mehr zu erkennen. In ihrer Jugend musste
sie eine sehr schöne Frau gewesen sein. Noch keine Schneekönigin, aber eine
Schneeprinzessin. Sicher war ihr Haar blond gewesen. Ich zog ihr die Bettdecke
bis unter das Kinn.
Noch einmal drehte ich mich zu dem alten Druck um. Wie wohl diese
Edelweißfee aussah? Auf dem Bild verbarg sie das Gesicht hinter dem Rücken
ihres Opfers. Ich schaute zurück zu meiner Patientin. Hansi lächelte im Schlaf.
Es schien mir im Raum kühler geworden zu sein. Ich ging zum Heizkörper und
drehte den Thermostat ein wenig höher. Dann verließ ich leise das Zimmer.
Auf dem Treppenabsatz hielt ich inne. Von dieser Stelle aus hatte man
meine Zimmertür direkt im Blick. Hansis Zimmer lag im zweiten Stock und ging
auf die Vorderseite des Gasthofes hinaus, meines befand sich ein Stockwerk
darunter auf der Rückseite. Doch beide Zimmer lagen der Treppe am nächsten. In
der Nacht des Überfalls musste Hansi meine Schreie als eine der Ersten gehört haben.
Aber sie war als Letzte gekommen. Womöglich hatte sie meinen Angreifer gesehen.
Warum hatte sie dann nichts gesagt? Vielleicht, weil es sich um jemanden
handelte, den sie kannte. Meine Mitbewohner waren erstaunlich schnell bei mir
gewesen. Und wie war der Täter überhaupt in den Gasthof gekommen? Nirgends gab
es Einbruchsspuren. Nachdenklich stieg ich die Treppe hinab. Im ersten Stock
hielt mich eine aufgebrachte Stimme auf, die aus dem Erdgeschoss kam.
»… gestern wieder der ganze Vorplatz voll Öl.« Wetti stritt offenbar
mit jemandem. »Wenn diese stinkende Maschine …«
»Das ist eine Harley, und die gehört meinem Gatten.« Die Frauenstimme kam
mir bekannt vor.
»Das is’ mir gleich, verstehen S’?« Wettis Stimme war ungewöhnlich
hoch. »Fahren S’ gefälligst zurück in die Stadt und kommen S’ wieder,
wenn der Wirt da is’.«
»Was erlauben Sie sich eigentlich, Sie Trampel?«
Ich beschloss zu warten, bis die beiden ihren Disput beendet hatten. Für
Streitereien war ich nicht in der Stimmung.
»Sie nennen mich nicht Trampel, Sie nicht!« Wettis Stimme zitterte. »Der
ganze Ort red ja schon über Sie und Ihren feinen Ehemann. Harley – ha. Hat
Ihr Gatte eigentlich Freigang, oder is’ der wieder draußen aus’m Häfn?«
»Also das ist doch die Höhe. Gleich morgen …«
»Für Sie gibt’s hier nix zu holen, verstanden? In den nächsten Tagen
kommt sowieso der Herr Notar wegen dem Testament, hat der Chef gesagt. Und da
wird sicher die Frau Johanna versorgt, jawohl.« Wetti klang, als wäre der
Streit damit entschieden. »Jetzt schaun S’ …«
»Lassen Sie meine verrückte Tante aus dem Spiel.«
An diesem Punkt entschied ich mich, laut polternd die Treppe hinunterzusteigen.
Zur Mitwisserin von Familiengeheimnissen wollte ich dann doch nicht werden.
»Sie, Sie … warten S’ nur, bis der Wirt wieder da is’. Der schmeißt
Sie raus wie immer.« Wettis Genugtuung war nicht zu überhören. »Sie sind nix
anderes als eine …«
Ich hatte den unteren Treppenabsatz erreicht und trat auf die Steinfliesen
in der Halle.
Wetti hielt kurz in ihrer Tirade inne, doch dann vollendete sie ihren
Satz: »Erbschleicherin.«
Beide Frauen standen vor Vinzenz Steiners Wohnungstür. Wetti hielt ihre Hände
unter der weiten grünen Dirndlschürze verborgen, und ihr Gesicht war rot
angelaufen. Die Frau ihr gegenüber hatte so dickes Make-up aufgetragen, dass
keine Rückschlüsse auf ihre seelische Verfassung möglich waren. Sie war eher
hager als schlank, und ihr glattes hellblondes Haar fiel lang über ein sehr
kurzes schwarzes Lederkostüm. Ich schätzte sie auf etwa vierzig. Ohne ein
weiteres Wort drehte Wetti sich um und stapfte in Richtung Gaststube.
»Die ist ihre Stelle los«, meinte die Blonde. »Wenn das mein Vater
erfährt.«
Da wusste ich, wo ich diese Frauenstimme schon einmal gehört hatte. Vor
mir stand die Fahrerin des Sportwagens, die mit dem Wirt eine
Auseinandersetzung vor dem Gasthof gehabt hatte. Sie hatte ihn Vater genannt.
Anscheinend war der Typ in der Leder-kluft, der mir vor zwei Tagen in der Halle
begegnet war, ihr Mann.
»Ihr Vater ist auf der Jagd«, sagte
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