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Jagablut

Jagablut

Titel: Jagablut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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Umgebung hatte ich ihn nicht erwartet. Frau Janssen
gab einen unterdrückten Laut von sich und hielt sich die Hand vor den Mund. Die
beiden Polizisten betraten den Raum. Ich blieb an der Tür stehen und drehte
mich zu den anderen um, doch niemand machte Anstalten, sich zu rühren. Also
folgte ich den beiden Polizisten allein. Zimperlichkeit hatte nie zu meinen
Charakterschwächen gehört. Außerdem war ich das Opfer des Anschlags gewesen.
Sollte sich der Täter hier versteckt halten, wollte ich bei seiner Ergreifung
unbedingt dabei sein.
    In der Kammer hing im Fellkleid, die Beine steif von sich gestreckt und
mit offener Bauchhöhle, an eisernen Fleischerhaken das geschossene Wild, das
auf seine Verarbeitung wartete. Dunkelrot klafften die leeren Leiber der
gehenkten Tiere. Lebende Tiere wirken unschuldig und schützenswert, tote Tiere
immer wie die Opfer eines Verbrechens.
    Kaml zeigte auf ein Reh, in dessen Maul noch ein Fichtenzweig steckte.
»Schaun S’, so reift das Fleisch in der Decke.«
    »In welcher Decke?« Ich schaute mich um.
    »So nennt der Jäger das Fell.«
    Die Polizisten gingen in der Kühlkammer umher. Walter schüttelte den
Kopf. »Ich mein, wir lassen’s, Schorsch. Wenn’s ein Einbrecher war, is’ der
längst dahin.« Er wandte sich an mich. »Sie können ja morgen auf dem
Postenkommando eine Anzeige …«
    Da ertönte ein Schrei.
    War der Täter etwa gefunden worden? Einen irren Moment lang sah ich ihn
schon wie in einem Horrorfilm zwischen den toten Tieren hängen. Langsam drehte
ich mich um. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen, die Hände auf die Ohren
gepresst, stand Hansi vor einem großen Hirsch, dem man den Kopf abgeschnitten
hatte.
    Wie die anderen Tiere hing er an den Hinterläufen auf einem
Fleischerhaken von der Decke. Eine schwarze Kruste aus gestocktem Blut, das aus
dem Halsstumpf gequollen war, zog sich wie eine Teerspur über seine Brust. Das
glatte Fell aber schimmerte noch immer in makellosem weißem Glanz.

SECHS
    Der junge Mann in der Tracht des neunzehnten Jahrhunderts
umklammerte mit einer Hand sein Gewehr, dessen Schaft er auf einen
Felsvorsprung gestützt hatte. Die andere streckte er einem Ast entgegen, der
über ihm aus der Felswand ragte. Noch fanden seine Füße in den genagelten
Bergschuhen Halt, doch sein Gesicht war nach hinten gerichtet, auf eine
schwebende Frauengestalt im weißen Gewand. Mit beiden Armen umfing sie seine
Mitte. Wollte sie ihn stützen oder in den Abgrund ziehen? Die Frau verbarg ihr
Gesicht am Rücken des Mannes, ihr langes blondes Haar flatterte im Wind, und
ihren Kopf schmückte ein Kranz aus Edelweiß.
    Es war nur ein Druck in einem schmalen Holzrahmen, doch er passte in das
spartanische Krankenzimmer. Vom Bett her kam ein leises Murmeln. Ich drehte
mich um. Hansi hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen. Ich
schlenderte zum Fenster und lehnte die Stirn gegen das kalte Glas.
    Der Himmel hing tief über dem Tal. Den ganzen Tag waren Regenschauer
niedergegangen, die sich gegen Nachmittag in Eisregen verwandelt hatten. Wenn
eine Windböe die winzigen Körner gegen die Scheiben trieb, prasselte es, als
würfe eine unsichtbare Hand Kieselsteine gegen das Glas.
    Ich stützte mich auf das Fensterbrett. Unter mir lag der Parkplatz, und
an der Laterne über dem Eingang zerrte der Wind. Das Quietschen der
schmiedeeisernen Aufhängung drang bis zu mir herauf. Durch die grauweißen
Schleier starrte ich in die Krone der alten Linde gegenüber. Auf ihren Ästen
hockten aufgeplusterte Raben. Die Szene erinnerte mich an ein Bild von Paul
Flora, das in der Praxis meines Vaters hing. Raben waren darauf und die
venezianischen Pestärzte mit ihren Schnabelmasken. Ihr Anblick musste den
Todgeweihten in den Gassen von Venedig wie ein Vorgeschmack auf die Hölle
erschienen sein. Ein Rabe gegenüber zog seinen Kopf unter dem Gefieder hervor
und schien mich anzusehen. Was sollten diese düsteren Gedanken? Außer einer
Beule war nichts mehr von dem Schlag auf meinen Kopf zu spüren. Hinter meinem
Rücken hörte ich ein Stöhnen.
    Mit drei Schritten war ich neben dem Bett. »Hansi? Fräulein Steiner?«
Über dem Kopfende hing ein mit Herbstblumen geschmücktes Kruzifix.
    »Was …?« Hansis Kopf lag halb verborgen zwischen dicken Kissen. Das
Silber ihres dichten Haares verschmolz mit dem Weiß des Leinens, ihr Gesicht
wirkte wie eine körperlose Maske.
    Nach ihrem Zusammenbruch im Kühlraum hatte ich ihr ein leichtes
Beruhigungsmittel gegeben. Trotzdem

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