Jagablut
eine Dame statt zum Kaffee zu einem
Probeschuss ein? Dies war Alpbach, das alte Dorf in den Bergen, in dem die
erholungsbedürftigen Großstädter Urlaub machten. Wo die Landschaft idyllisch
und die Welt noch heil war.
Und wo man des Nachts vor seiner eigenen Tür erschlagen werden konnte.
Ich zögerte, aber außer Viktor hatte mir noch kein Einheimischer seine
Freundschaft angeboten. Ich wollte ihn daher nicht vor den Kopf stoßen.
Außerdem, so gestand ich mir ein, sehnte ich mich nach einem persönlichen
Gespräch. Vielleicht war dies die Gelegenheit.
»Okay«, sagte ich. »Ich hole nur schnell meine Jacke.«
Einer der zankenden Raben stieß sich von seinem Ast ab und segelte im
Tiefflug über uns hinweg. Grauweißer Vogelkot klatschte vor meine Füße. Die
Wiener Innenstadt mit ihren Geschäften und Lokalen schien mir so weit weg wie
noch nie.
Der Schießstand befand sich wenige Kilometer außerhalb des
Ortes. Gleich hinter Alpbach bogen wir nach rechts in eine schmale Straße ab,
die an ein paar Bauernhöfen und einem Reitstall vorbeiführte. Vor uns breitete
sich der Herbstwald wie ein bunter Teppich über die Bergflanken aus.
Die Sonne schien durch das Seitenfenster, und im Radio sang John Denver.
Ich summte mit. Country roads, take me home, to the
place I belong … Die Anspannung der letzten Tage fiel langsam von mir
ab.
Viktor pfiff eine Weile mit und behielt dabei die Straße im Auge. Dann
wandte er seine Aufmerksamkeit mir zu. »Und?«, fragte er. »Hast du schon
Anzeige erstattet?«
»Nein. Ich weiß auch nicht, ob ich’s überhaupt tue.« Ich hatte darüber
nachgedacht, aber wenn nicht einmal Georg Kaml eine Täterbeschreibung abgeben
konnte, schien mir eine Anzeige reine Zeitverschwendung. »Ich war gestern in
Hansis Zimmer und … also, ich frage mich, ob sie nicht etwas gesehen haben
könnte.« Aber sie hatte nichts gesagt. »Was ist eigentlich mit ihr los?«
»Mit der Hansi?« Er hob die Brauen. »Nichts. Wieso?«
»Sie wirkt ein wenig … seltsam auf mich.« Ich suchte nach den
rechten Worten. »Sie scheint nicht dement zu sein. Vielleicht zeitweise
verwirrt, aber … Ach, ich weiß auch nicht.« Wahrscheinlich lebte Hansi in
ihrer Märchenwelt und wirkte deswegen so geheimnisvoll auf mich. »Vergiss es.«
Eine heruntergelassene Schranke versperrte den Weg. Viktor ließ das
Seitenfenster herab, beugte sich vor und drückte auf einen Schalter neben dem
als Abziehbild ein stilisierter Auerhahn klebte. Eine kleine Kamera blinkte rot
auf, dann hob sich die Schranke und gab den Weg frei.
Viktor fuhr an. »Die Hansi ist völlig harmlos«, sagte er. »Sie ist halt
so eine typische alte Jungfer. Ein bisschen scheu, immer Angst, was falsch zu
machen oder irgendwen zu kränken.« Er beschleunigte den Wagen. »Ihre Hochzeit
hat sich vor vielen Jahren zerschlagen und jetzt – kein Mann, keine Kinder
und die ganze Befriedigung aus wohltätigen Werken.«
Ich dachte an die Häkeleien für die rumänischen Waisenkinder und die
Bauernkrapfen für den Kirchenbasar und musste ihm recht geben. Vielleicht wurde
man durch so ein Leben wunderlich. »Hat sie denn keine Freundinnen?«
Viktor schüttelte den Kopf. »Sie hätte sicher keine Probleme, welche zu
finden«, meinte er. »Solche netten alten Damen wirken ja immer etwas hilflos
und werden oft verhätschelt. Aber sie lässt kaum jemanden an sich heran. Im
Grunde ist die Hansi eine Eigenbrötlerin.« Er lachte und nahm damit seinen
Worten die Schärfe. »Aber eine von den netten.«
»Verstehe«, sagte ich. Alte Leute litten ja oft unter Einsamkeit und in
der Folge unter Realitätsverlust.
Links und rechts der Straße hatte man in gleichem Abstand Tannen gepflanzt,
dazwischen lagen sehr dekorativ verschieden große Findlinge. Unter den
Felsbrocken schauten Latschenkiefern hervor, an deren Zweigen kleine braune
Zapfen hingen. Dahinter breitete sich bis zum Waldrand ein kurz gehaltener, von
Herbstlaub gesprenkelter Rasen aus. Es war eine perfekt gepflegte Anlage, eine
künstlich geschönte Alpenwelt, die nichts mit der umliegenden Natur zu tun
hatte, die mich so faszinierte und berührte.
»Was ist das hier?«, fragte ich. »Der Alpbacher Country Club?«
Viktor lachte. »Das ist unser neues Jagdzentrum«, sagte er. »Schießstände,
Seminarzentrum, Gasthaus … die Forstverwaltung ist hier auch
untergebracht.«
Vor uns tauchte ein Gutshof auf, der aus drei lang gestreckten Gebäuden
mit mächtigen Walmdächern bestand, die sich um einen
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