Jagablut
hatte sie seither fast nur geschlafen, kaum
getrunken und in ihren wenigen wachen Momenten wirr geredet, was sicher dem
zunehmenden Flüssigkeitsmangel geschuldet war. Wenn sie heute von sich aus
nichts trank, musste ich ihr eine Infusion geben.
»Können Sie mich hören, Hansi?« Ich griff nach ihrer Hand. Sie fühlte
sich knochig und kalt an. »Möchten Sie vielleicht eine Tasse heißen Tee?« Wetti
hatte mehrmals die noch volle Thermoskanne gegen eine frische ausgetauscht.
»Nein«, flüsterte Hansi. »Wer sind Sie?«
»Ich bin Emma«, sagte ich. »Emma Canisius. Die Ärztin. Erinnern Sie sich
nicht?«
Ein zögerliches Nicken war die Antwort. Langsam schlossen sich ihre
pergamentdünnen Augenlider. Ich fasste nach ihrer Schulter, schüttelte sie
leicht und sagte: »Ein schönes Bild haben Sie da.« Sie musste wach bleiben.
Hansi öffnete die Augen. »Schönes Bild …?«
»Wer ist denn die Dame mit dem Edelweiß im Haar?«
Langsam drehte Hansi das Gesicht zu dem Druck an der Wand. »Die
Edelweißfee, die Bergfee.«
»Die Bergfee?« Ich griff nach der Thermoskanne und schenkte ein wenig Tee
in die bereitstehende Tasse. »Und ich dachte, das wäre ein Schutzengel.«
Hansi bewegte den Kopf auf dem Kissen. »Die Bergfee bringt kein Glück.«
Sie machte eine Pause. »Nur Blumen.«
»Ach.« Nach der weißen Gams, die den Ersten Weltkrieg ausgelöst haben
sollte, war ich auf den nächsten Unheilbringer gestoßen. Gab es eigentlich auch
positive Alpensagen? »Aber Blumen sind ja auch was Schönes, nicht?«
»Die Edelweißfee erscheint den Jägern und Wanderern im weißen Gewand«,
flüsterte Hansi. »Um ihren Hals liegt eine Kette aus den schönsten
Bergkristallen. Und sie singt die schönsten Lieder, wenn’s den jungen Männern
winkt, damit’s näher kommen.« Sie hob ihre Hand vor mein Gesicht und krümmte
den Zeigefinger wie eine Märchenerzählerin, die die Hexe gibt. »Aber wenn einer
wagt, nach ihr zu greifen«, sie hob die Stimme, »dann schleudert ‘s ihn hinab.
In den tiefen Abgrund.«
»Ach, wirklich?« So etwas hatte ich schon befürchtet. »Schauen Sie,
Hansi, hier ist Ihr Tee. Sie müssen unbedingt mehr trinken.«
Aber sie hatte mir gar nicht zugehört. »Dann muss die Alpenbraut weinen.«
Ein seltsames Lächeln verklärte ihr Gesicht. »Und wo ihre Tränen auf die Felsen
fallen, da wachsen die Edelweiß.«
Ich hielt ihr die Tasse hin. »Schöne Geschichte.«
Hansis Lider flatterten. »Das ist doch keine schöne G’schicht«, sagte
sie. »Wieso ist das eine schöne G’schicht? Die jungen Männer kommen doch nicht
wieder.« Sie schniefte leise. »So wie der Vinzenz.« Eine Träne quoll aus ihrem
Augenwinkel und lief über ihre glatte Wange.
»Der Vinzenz?« Ihre Verwirrtheit machte mir jetzt doch Sorgen. »Meinen
Sie Ihren Bruder?« Ich legte meine Hand unter ihren Hinterkopf und stützte sie.
Mit der anderen hielt ich ihr die Tasse an den Mund. »Aber der Vinzenz ist doch
nicht tot.« Ich drückte den Tassenrand ein wenig an ihre Unterlippe. »Heute
Abend ist er wieder da. Oder spätestens morgen. Ganz bestimmt.«
Sie heftete den Blick auf mein Gesicht. Ihre Augen glänzten. Dann trank
sie in großen Schlucken die halbe Tasse leer.
»Na sehen Sie. Wenn Ihrem Bruder etwas passiert wäre, dann hätte sich
sein Freund doch schon gemeldet, nicht wahr?«
Unten auf dem Parkplatz schlug eine Autotür zu. Absätze klapperten die
Steinstufen hinauf. Dann hörte ich das Schnappen der Eingangstür.
»Der Vinzenz kommt nicht wieder«, sagte Hansi. »Den hat der Teufel
geholt.« Ihre Augen funkelten im letzten Tageslicht. Sie schien sich über ihre
eigene Formulierung zu amüsieren.
Der Wind schleuderte Hagelkörner so heftig gegen die Fenster, als wollte
er die Scheiben zerbrechen. Die Laterne über dem Eingang schwang hin und her
und warf wilde Schatten an die Decke.
»Unsinn«, sagte ich. »Morgen ist er wieder da.«
»Nein …« Hansis Hände fuhren über die Bettdecke. »Aber er ist selber
schuld, ist selber schuld … der Vinzenz.« Auf einmal griff sie nach meinem
Arm und krallte sich fest. Ihr Atem ging stoßweise. Sie glaubte tatsächlich,
ihr Bruder sei einem alten Jägeraberglauben zum Opfer gefallen, nur weil er
einen Albino-Hirsch getötet hatte. »Der Vinzenz …«
»Jetzt beruhigen Sie sich.« Ich legte meine Hand über ihre kalten Finger.
So plötzlich, wie sie außer sich geraten war, sank Hansi in sich zusammen.
»Alles wird gut.«
»Nein«, murmelte sie und entwand mir
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