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Jagablut

Jagablut

Titel: Jagablut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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narbige Oberfläche des alten Schlosses.
Für wen hatte es sich vor langer Zeit wohl geöffnet? Hoffentlich hatten sich
viele der Verfolgten vor den Schergen des Erzbischofs retten können. Durch die
offene Tür des Abstellraums hörte ich das Murmeln des Baches, und mir schien,
als raunten im Wasser menschliche Stimmen. Früher hatte die Tür Leben gerettet.
Hatte jetzt ein Mörder diesen Weg ins Haus genommen? Der schwarze Schlüssel in
meiner Jackentasche wog schwer. Ich zog ihn heraus.
    Das Schloss ließ sich leicht öffnen. Keine Frage, diese Geheimtür war in
Gebrauch. Ich drückte die Klinke. Dahinter lag eine rohe Bretterwand. Wie Hansi
gesagt hatte, gab ich ihr einen leichten Schubs. Sofort trat die Wand zurück,
und ich blickte in den Flur von Vinzenz Steiners Wohnung. Ich erkannte die
bemalte Bauerntruhe, an der der Bergstecken lehnte. Darüber hingen die Trophäen
an der Wand. Nur das Haupt der weißen Gams fehlte.
    Langsam betrat ich den Vorraum. Der Gestank nach Tod und Verwesung war
verschwunden. Die Fenster hatte man geschlossen, mich umgab nur noch der Geruch
einer abgewohnten, selten gelüfteten Wohnung eines alten Mannes. Auch von
dieser Seite war der Durchbruch durch eine Garderobe getarnt, die von einem
starken Magnet an der Wand gehalten wurde. Der Magnet war neu.
    Fast hätte ich laut gelacht. Wie oft waren wir alle, einschließlich der
Polizei, an den Jacken und Hüten vorbeimarschiert. Jacqueline Seywald hatte ein
neues Schloss an der Wohnungstür anbringen lassen, aber wer den geheimen Zugang
kannte, konnte diese Räume jederzeit betreten. Kannte der Mörder die Geheimtür?
Wohl kaum, sonst hätte er nicht durchs Fenster einsteigen müssen. Und wenn
doch? Dann stand er seinem Opfer näher, als wir alle und die Polizei
vermuteten. Es war ein neuer und beunruhigender Gedanke.
    Ich kehrte in die Stube zurück. Hansi saß noch immer am Ofen. Sie stickte
fleißig. Nur Wetti hatte in der Zwischenzeit meinen Teller abserviert und Hansi
eine Tasse Tee hingestellt. Ich legte den Schlüsselbund daneben und setzte mich
auf die Ofenbank. Hansi schien ganz auf ihre Handarbeit konzentriert.
    »Die Tür war verschlossen«, sagte ich. Dass das Schloss gut geölt war,
brauchte sie nicht zu wissen.
    Hansi hielt den Stickrahmen ein wenig von sich weg und kniff die Augen
zusammen, während sie ihr Werk begutachtete. »Das ist gut«, meinte sie. »Dann
bin ich beruhigt.« Sie schenkte mir ein Lächeln. »Finden S’, dass ich nur
grünen Faden nehmen sollt’, oder nicht doch auch rot? Oder rosa? Ich mein, das
wär vielleicht hübsch. Oder ist das zu wenig trauermäßig?«
    Sie schien sich für das Ergebnis meiner Nachforschungen nicht mehr zu
interessieren, sondern war wieder in ihre Welt abgetaucht. Doch etwas musste
ich noch wissen. »Wird der Durchgang eigentlich noch benutzt?«
    Hansi ließ den Stickrahmen sinken. »Benutzt?«
    »Ja, auf der Wohnungsseite gibt es ein neues Magnetschloss.«
    Hansi seufzte. »Ach so. Ja, das hat der Vinzenz gemacht. Der war halt so
praktisch veranlagt.« Sie griff nach ihrer Stickschere und zog einen langen
Faden aus einer Docke grünen Garns. »Früher muss das ja sehr lästig gewesen
sein, mit dem alten Schrank davor.« Mit einem scharfen Schnitt durchtrennte sie
das Garn. »Und nun ist der Vinzenz tot.«
    »Ein alter Schrank?«
    »Na, ja.« Sie steckte ein Ende des Fadens kurz in den Mund und fädelte
ihn dann geschickt durch das Nadelöhr. Trotz ihres Alters schien sie noch keine
Brille zu brauchen. »Ich denke, irgendwas musste man ja vor die Tür stellen,
nicht? Und hinter so einem großen Schrank hat halt auch niemand einen Durchgang
vermutet.« Sie nickte mir zu. »Ich find es immer schön, wenn so junge Leute wie
Sie sich für die alten Geschichten interessieren.« Anscheinend hatte sie ganz
vergessen, dass sie es gewesen war, die mich auf die geheime Vergangenheit des
Jagawirts gestoßen hatte.
    »Na gut.« Ich stand auf. »Dann fahre ich jetzt mal wieder in die Praxis …«
    »Der Schrank steht übrigens in Ihrem Zimmer.« Hansi stach die Nadel in
das Leinen und zog den grünen Faden mit einem kratzenden Geräusch hindurch.
    »Bei mir?« Ich wusste genau, welchen Schrank sie meinte.
    »So ein alter Bauernkasten.« Sie fuhr mit den Fingerspitzen über die
grünen Buchstaben der Stickerei und runzelte die Stirn. »Ich nehm doch lieber
rot.«
     
    Als ich gegen Mitternacht in den Jagawirt zurückkehrte, waren
die letzten Gäste schon gegangen. Die Halle lag still im

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