Jagablut
Halbdunkel, nur
bewacht von den ausgestopften Tieren an der Wand. Müde stieg ich die Treppe in
den ersten Stock hinauf. Ich freute mich auf eine heiße Dusche und mein
Himmelbett. Aber als ich den Vorraum meines Zimmers betrat, fielen mir Hansis
Worte wieder ein. Ich nahm den bemalten Bauernschrank näher in Augenschein.
Bisher hatte ich nichts Auffallendes an ihm gefunden. Nun schienen mir die
Doppeltüren auf einmal sehr breit, breit genug, um einem Menschen Durchlass zu
gewähren. Bemalt war der Schrank mit bunten Jagdszenen. Erst bei näherem
Hinsehen stellte ich fest, dass es sich bei den Bildern um Karikaturen
handelte. Die Jäger in den altmodischen Kostümen trugen Tierköpfe. Ich
entdeckte ein Wildschwein, einen schlappohrigen Jagdhund, und am linken Rand stand
ein Hase im roten Rock auf den Hinterläufen.
Dieser Schrank hatte einst Menschenleben gerettet. Der Schlüssel war noch
in meinem Besitz, doch jetzt gehörte er wohl Hansi. Konnte ich wohl noch einen
schnellen Blick in das geschichtsträchtige Möbelstück werfen? Draußen am Gang
hörte ich Schritte. Georg Kaml machte anscheinend seine letzte Runde. Der Hase
im Jagdrock beugte den Kopf über eine Flinte und zielte in ein Gebüsch. Mein
Gewissen riet mir ab. Doch am Ende siegte wie immer mein Forscherdrang.
Die Schranktüren sprangen auf. Ihr Knarren hatte einen eigentümlichen
Klang. Die Schritte auf dem Gang hielten kurz inne und entfernten sich dann.
Rasch nahm ich einen Stapel alten Papiers aus dem Schrank. Eine Hälfte der
Rückwand war aus hellerem Holz, und ich konnte Leimspuren erkennen. Sie schien
erst nachträglich eingesetzt worden zu sein. Hier musste sich früher der
Durchstieg befunden haben. Hansis Geschichte stimmte also. Ich klopfte zur
Probe gegen die Bretter, aber natürlich tat sich keine Geheimtür auf. Das alte
Holz klang hohler als das frische. Ein wenig enttäuscht räumte ich die
vergilbten Buchhaltungsunterlagen wieder ein.
Ein Geräusch am Fenster ließ mich meine Arbeit unterbrechen. Etwas
trippelte über den Sims. Ich drehte mich um. Hinter der Scheibe zeichneten sich
die Umrisse eines großen Vogels ab. Eine Eule hatte sich aufs Fensterbrett
gesetzt und starrte mich an.
ELF
Meine Morgenordination war schon fast vorüber, als Miranda
den Kopf durch die Tür des Sprechzimmers steckte. Sie trug einen blütenweißen
Kittel mit hohem Stehkragen. Ihre blonde Mähne war zum Pferdeschwanz gebändigt,
und eine schmale Lesebrille saß auf ihrer Nase, was ihr ein seriöses und sehr
kompetentes Aussehen verlieh.
»Frau Doktor?« Ihr Tonfall war neutral, aber ihre porzellanblauen Augen
waren größer als sonst, und ihre Mundwinkel zuckten. »Der Dr. Thurner wartet
draußen.« Sie reckte die Nase vor und erinnerte mich an einen Jack Russell
Terrier, der eine Maus wittert. »Soll ich ihn reinführen?«
Ich überflog den Kurzbericht, den ich über meine letzte Untersuchung in
den Computer getippt hatte. »Was fehlt ihm denn? Ist er krank?« Ich drückte die
Enter-Taste.
»Ich glaube nicht.« Sie räusperte sich.
Es war fast einen Monat her, dass wir Vinzenz Steiners Leiche gefunden
hatten. Und noch immer hatte sich Viktor nicht im Gasthof blicken lassen.
Zuerst hatte ich mich über sein Verhalten gewundert, inzwischen empfand ich es
als Zurückweisung.
Ich schaute auf dem Computerschirm nach meinem nächsten Patienten. Maxi
Wagner war wieder mit Halsschmerzen da. »Ich hab jetzt keine Zeit.« Der Junge
würde um eine Mandeloperation nicht herumkommen.
»Dann sag ich ihm, dass er warten soll.«
»Nein, äh, Miranda …« Aber sie war schon verschwunden.
Eine Dreiviertelstunde später hatte ich Maxis Mutter die Einweisung ins
Krankenhaus mitgegeben, die Altbäuerin vom Sonnleiten-Hof gegen Grippe geimpft
und eine Erstuntersuchung bei der fünf Wochen alten Joelina Unterkofler
vorgenommen.
Als ich aus dem Sprechzimmer kam, nickte mir Miranda zu. »Der Dr. Thurner
wartet in Ihrem privaten Büro.«
»Was?« Das ehemalige Arbeitszimmer Mooslechners war zu meinem
Lieblingsplatz im Haus geworden. Dorthin zog ich mich in den Pausen zurück, las
Krankenakten und Fachliteratur. Außenstehende hatten keinen Zutritt.
Miranda grinste. Ein schlechtes Gewissen sah anders aus. »Soll ich Kaffee
machen?«
Ich würdigte sie keiner Antwort und steuerte auf die Tür zu, auf der noch
das Schild des alten Mooslechner mit der Aufschrift »Privat« hing.
Die Zirbenstube wirkte warm und behaglich im goldenen Herbstlicht, das
durch die
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