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Jagablut

Jagablut

Titel: Jagablut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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Fensterscheiben einfiel. Die dicke Staubschicht war längst
verschwunden, der Sessel mit der hohen Lehne hatte einen grün-rot gestreiften
Bezug bekommen, und auf dem Tisch prangte ein Herbstblumenstrauß. Alte Bücher,
Aktenordner und Zeitschriften verbreiteten Bibliotheksatmosphäre. Hierher drang
kein Straßenlärm, nur im Kachelofen knisterte leise das Feuer.
    Viktor stand mit dem Rücken zu mir vor einem Bücherregal und schien ganz
in einen Bildband vertieft. Er trug eine graue Strickjacke und lederne
Kniebundhosen und fügte sich so harmonisch in die Zirbenstube ein, dass man ihn
für einen alpenländischen Werbeprospekt hätte fotografieren können. Der Geruch
seines Rasierwassers hing im Zimmer. Seine holzige Note überlagerte den zarten
Duft des Zitronenöls, das den alten Holzmöbeln ihren Glanz zurückgegeben hatte.
Ich schloss die Tür lauter als beabsichtigt.
    Sofort drehte er sich um. »Hey.« Mit einem Knall schlug er das Buch zu.
    »Grüß dich, Viktor.« Ich steuerte auf den Tisch zu und ließ mich in den
Hochlehner fallen. Wie die Königin von ihrem Thron musterte ich meinen Gast.
Das vergilbte Buch in seinen Händen war die langatmige Beschreibung einer
Alpenüberquerung im 19. Jahrhundert. Noch dazu in altdeutscher Schrift.
»Was kann ich für dich tun?« Nachdem er sich so lange nicht bei mir gemeldet
hatte, musste es ja einen Grund für sein überraschendes Erscheinen geben.
    Viktor schob den Bildband an seinen Platz im Regal zurück. »Gar nichts
sollst du für mich tun. Wollt dich nur mal besuchen. Wie ich sehe, läuft deine
Praxis ja nicht schlecht.« Er schaute sich um. »Da hast du ja allerhand
geschafft.«
    »Selbst ist die Frau.« Ich bin keine Freundin falscher Bescheidenheit.
    Viktor überhörte geflissentlich die kleine Spitze und schlenderte an den
Regalen entlang. »Noch vom alten Mooslechner, was?« Er fuhr über eine Reihe
Aktenordner. »Was ist denn da drin, um Gottes willen? Willst du das etwa alles
aufheben?« Er zog einen Ordner hervor und blätterte durch die Seiten.
    »Irgendwann werde ich den ganzen Kram durchsehen.« Ich hatte zwar schon
einen Blick in die Aufzeichnungen geworfen, aber sie reichten zumeist
Jahrzehnte zurück und betrafen nur noch wenige meiner Patienten. »Ich fürchte,
hier stehen Krankenakten bis hin zur Zeit von Maria Theresia.«
    Viktor lachte und stellte den Ordner zurück. »Wenn du willst, kann ich
dir helfen.« Sein Blick glitt weiter über die altmodische Handschrift auf den
Rücken der Ordner. Er stutzte und zog das in Leder gebundene Notizbuch hervor,
das ich bei meinem ersten Besuch gefunden hatte. Es enthielt nur persönliche
Aufzeichnungen des alten Mooslechner, aber für mich war es Teil dieses
Arbeitszimmers. Ich hatte nicht das Herz gehabt, es einfach wegzuwerfen, und es
erst einmal in ein Regal geschoben. Viktor drehte den schmalen Band um, und das
linierte Blatt Papier, das als Lesezeichen darin steckte, segelte zu Boden. Er
hob es auf und las laut. »›So geh ich heut von meinem Haus, die Kinder muss ich
lassen, mein Gott, das treibt mir Tränen aus, zu wandern fremde Straßen‹.« Er
runzelte die Stirn. »Das stammt sicher von einem Vorfahren vom Mooslechner
Adi.« Er schaute zu mir herüber. »Die Mooslechners sind Protestanten. Eine von
den Familien, die damals Alpbach verlassen mussten. Ich glaube, erst der
Großvater vom Adi ist wieder zurückgekehrt.«
    Er legte das Notizbuch quer auf den Aktenordner, den er zuletzt in der
Hand gehabt hatte. Dann wandte er sich um und kam zu mir. Er zog einen
geschnitzten Holzstuhl heran, drehte ihn mit Schwung so, dass der mit
Rosenranken bemalte Rücken zu mir zeigte, und setzte sich breitbeinig darauf.
    »Wie ich höre, wohnst du immer noch im Jagawirt.« Er verschränkte die
Arme auf der Lehne und stützte das Kinn darauf. In seiner Stimme schwang ein
Hauch von Sorge. »Findest du nichts anderes, oder suchst du nicht?«
    Wider Willen war ich gerührt. »Ich suche nichts, aber danke der
Nachfrage.«
    Er runzelte die Stirn. »Es wäre besser, wenn du ausziehst. Glaub mir.«
    »Nein, das glaube ich nicht.« Ich hatte Viktor schon fast als Freund betrachtet.
Aber sein Fernbleiben hatte mich eines Besseren belehrt. Mein Privatleben ging
ihn nichts an. »Selbst wenn ich wollte – ich hab im Moment gar keine Zeit
für die Wohnungssuche. Außerdem gefällt’s mir im Jagawirt.«
    Thurner hob die Brauen. »Wie bitte?«
    »Ja, doch …« In diesem Moment wurde mir klar, dass es mein voller
Ernst

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