Jagablut
Weiße Frau.« Sie wand die lange Kette ihres Medaillons um den
Zeigefinger. »Jemand wird bald sterben. Für dich ist die Kugel schon gegossen,
hat’s geheißen.«
Das Knistern des Feuers im Ofen wurde lauter, es knackte und prasselte.
»Was soll das heißen – für dich ist die Kugel schon gegossen?« Die
Würgemale an meinem Hals kribbelten.
Hansi musterte mich mit einem wissenden Lächeln. Ihre Augen glommen wie
Feuerreste unter einer Ascheschicht.
»Er wird wiederkommen, oder?«
Sie hörte auf, mit dem Medaillon zu spielen, und deutete auf meine halb
volle Tasse. Auf der grünen Oberfläche schwammen stumpfe Fetzen aus gestocktem
Salbeitee. »Der dumme Inspektor. Jetzt ist Ihr Tee ganz kalt geworden. Soll ich
Ihnen frischen bringen lassen?«
Einen irren Moment lang wollte ich lachen. Fast hätte Hansi es geschafft,
mir mit ihrem Geschwätz Angst einzujagen. Aber es war meine eigene Schuld.
Immer wieder ließ ich mich in ihre Geschichten hineinziehen, dabei wusste ich
doch genau, was für ein wirrer Geist in ihrem alten Körper wohnte.
DREIZEHN
Die Alpbacher Schaufenster waren mit riesigen Kürbissen, echten
und solchen aus Pappmaschee dekoriert, in der Auslage des Café Guglhupf prangte
eine mit Marzipankürbissen verzierte Sachertorte, und überall wurden
Zauberermäntel und spitze Hüte angeboten. Es war eine Sinfonie in Orange und
Schwarz. Halloween hatte auch in Alpbach Einzug gehalten.
Bildete ich mir ein, dass das Dorf mich schärfer beobachtete als in den
Wochen zuvor? Dass Gespräche verstummten, Köpfe sich nach mir umdrehten und
Blicke mir folgten, wenn ich in die Praxis fuhr?
»Die Leute reden halt«, sagte Miranda am Freitag nach der Morgenordination
und sortierte die Zeitungen im Wartezimmer für Montag. »Solange der Mörder frei
herumläuft, wird’s hier keine Ruhe geben.«
»Aber dieses ganze Interesse an meiner Person gefällt mir nicht«, wandte
ich ein. Auf keinen Fall konnte ich dulden, dass ich zum Objekt ständiger
Spekulationen wurde.
Miranda zuckte die Schultern. »Sie haben eben den Mordanschlag überlebt.
Das ist doch spannend.« Die letzte Ausgabe des »Alpbacher Wochenblatts« in der
Hand, lugte sie durch ihre getuschten Wimpern. »Haben S’ den Mörder
gesehen?«
»Welchen Mörder denn, um Gottes willen?«
»Na, den vom Steiner Vinzenz, der dann versucht hat, Sie auch noch
umzulegen.« Sie rollte die Zeitung zusammen und fuhr damit wie mit einem
Schwert durch die Luft. »Der schlägt bestimmt wieder zu. Das tun Mörder doch
immer«, fügte sie fachmännisch wie ein Profiler hinzu.
Mit diesen Worten traf Miranda bei mir einen Nerv. Ich hatte mich in den
letzten Tagen auf meine Arbeit konzentriert, was mir nicht schwergefallen war –
Herbstzeit war Erkältungszeit, und meine Patienten standen Schlange. Trotzdem
hatte ich den Vorsatz, mich selbst um meinen Angreifer zu kümmern, nicht
vergessen. Wenn es sich bei Steiners Mörder und meinem Angreifer um denselben
Täter handelte – wovon alle, einschließlich der Polizei, auszugehen
schienen –, dann war das Motiv bei meinem Wirt und nicht bei mir zu
suchen. Es war an der Zeit, sich mit Vinzenz Steiners Vergangenheit zu
befassen.
Ich deutete auf die Papierrolle in Mirandas Hand. »Wo wird denn dieses
Qualitätsblatt gedruckt?« Freitags hatte ich keine Nachmittagsordination. Eine
gute Gelegenheit also, dem Archiv der örtlichen Zeitung einen Besuch
abzustatten.
Die Redaktion des »Alpbacher Wochenblatts« befand sich an der
Hauptstraße, direkt gegenüber dem großen Sportgeschäft, dessen Fassade eine
lebensgroße Puppe in Bergsteigerkluft und bewaffnet mit Helm, Pickel und
Steigeisen zu erklimmen schien.
Eine altmodische Glocke schlug an, als ich das ehemalige Geschäftslokal
betrat. Hinter einem Tresen saß ein Mann um die sechzig vor einem
Computerbildschirm. Er trug einen Norwegerpullover, und ein weißer Dreitagebart
zierte sein Gesicht. Sein langes graues Haar war zu einem dünnen Pferdeschwanz
gebunden. Offenbar hatte die Hippiebewegung seinerzeit auch Alpbach erreicht.
Bei meinem Eintreten hob der Mann den Kopf und spähte über die Lesebrille, die
auf seiner spitzen Nase saß. Dies musste Wolfgang Leitner sein, Herausgeber,
Chefredakteur und Anzeigenleiter in Personalunion.
»Ja, grüß Gott, die Frau Doktor.« Er drückte rasch noch eine Taste, dann
kam er zu mir an den Tresen. »Was verschafft mir denn die Ehre?« Er reichte mir
die Hand. Seine wachen Augen erinnerten an die eines
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