Jagablut
aus dem Dorf.« In diesem Moment
hätte ich das beschworen. Er ist zurück, er ist
zurück. »Aber ich habe mal eine Beobachtung gemacht … Also, ich
weiß nicht, ob das wichtig ist …«
Pohl beugte sich vor. »Alles kann wichtig sein, Frau Canisius. Wen oder
was haben Sie gesehen?«
»Das war vor ein paar Wochen. Am Abend. Ich habe in meinem Zimmer am
Fenster gestanden.« Das Röhren der Hirsche war mir noch so gegenwärtig wie die
helle Gestalt, die sich vom Waldrand abhob. Sie hatte ein wenig geschwankt.
Aber als ich das Licht ausgeschaltet hatte, um sie besser sehen zu können, war
sie auf einmal verschwunden gewesen. »Das muss kurz vor dem Mord gewesen sein.«
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Hansi mir ihr Gesicht zuwandte. »Jemand hat
am Waldrand gestanden und den Gasthof beobachtet.« Hansi sank in sich zusammen.
»Ich habe den Mann nur sehen können, weil er so hell gekleidet war. Vielleicht
war es auch eine Frau.«
Hansis Hände krampften sich um meine. Wusste sie etwa, wer da am Waldrand
gestanden hatte? Er ist zurück …
Pohl legte den Kopf auf die Seite. »Unser Täter muss ein kräftiger Mann
sein. Wenn Sie eine Frau gesehen haben …«
»Es war eher so ein … Schemen.«
»Ein Schemen?« Er zog die Brauen hoch. »Sie meinen, Sie haben einen Geist
gesehen?« Sein Blick huschte zu dem Marmeladenglas. »Frau Canisius, wir
brauchen überprüfbare Hinweise. Hell gekleidete Gespenster gehören leider nicht
dazu.«
Ich befreite meine Hände aus Hansis Griff, lehnte mich an den warmen
Kachelofen und schloss die Augen. Ich wusste selbst nicht mehr, was ich gesehen
hatte, woran ich glauben und wem ich trauen konnte. Kein Wunder, dass der
Chefinspektor aus der Stadt mich für eine Spinnerin hielt. Alpbach war nur eine
gute Stunde von Salzburg entfernt. Und eine ganze Welt.
Ich öffnete die Augen. »Können wir das Gespräch vielleicht ein anderes
Mal fortsetzen? Ich fühle mich ziemlich angeschlagen.«
Pohl zögerte. »Sie wissen, dass wir nicht viel Zeit haben?«
»Bis zum nächsten Verbrechen im Jagawirt?« Die Frage war mir
herausgerutscht, ehe ich darüber nachdenken konnte. Sie klang wie eine
Prophezeiung. Ich schaute zu Pohl, doch er wich meinem Blick aus.
»Ich werde die Bildung einer Sonderkommission vorschlagen.« Er trommelte
auf die Tischplatte. »Wir werden jeden Einzelnen in diesem Nest vernehmen. Wir
kriegen den Mann, das verspreche ich Ihnen.« Mit dem Zeigefinger stieß er kurz
gegen das Marmeladenglas und zog ihn so schnell zurück, als hätte er sich daran
verbrannt. »Wir haben auch unsere Methoden.«
»Ja, sicher.« Ich schenkte ihm ein Lächeln. Dass seine Methoden in
Alpbach zum Erfolg führten, bezweifelte ich. Pohl würde alle befragen, in jedem
Winkel herumstochern und am Ende nichts erfahren. Zu dicht war das Netz aus
verwandtschaftlichen Beziehungen, gegenseitigen Abhängigkeiten und Misstrauen
gegen jede Einmischung von außen. Wenn die Polizei anfing, Hypothesen zu
entwickeln und die Ortsbewohner in Unruhe zu versetzen, würde sie vor derselben
Mauer aus Schweigen stehen wie ich am Anfang. Aber für mich wurde diese Mauer
bereits brüchig und durchlässiger. »Ich hoffe, morgen geht es mir besser. Wenn
mir noch was einfällt, melde ich mich gleich.« Ich zupfte an dem blauen
Stoffstück, das den Deckel des Marmeladenglases zierte.
Pohl stand auf. Seine makellosen Trekkingschuhe knarrten. Sogar die
Schnürsenkel waren noch weiß. Er beugte sich zu mir herab und reichte mir die
Hand. Die rote Outdoorjacke roch noch frisch imprägniert. »Gibt es jemanden in
Alpbach, bei dem Sie vorübergehend wohnen können?«
»Das wird nicht nötig sein.« Hoffte ich zumindest. Außerdem würde ich
jede Wette eingehen, dass ich bei der Tätersuche schneller war als seine
Sonderkommission. Wer den Täter in Alpbach finden wollte, musste nach den
hiesigen Regeln suchen. Und da hatte ich eindeutig einen Vorsprung vor dem
Chefinspektor aus Salzburg.
Pohl winkte seinen Kollegen, die sofort aufstanden. Er nickte Hansi und
mir zum Abschied zu. Dann schloss sich die Stubentür hinter den dreien.
Hansi umfasste das Medaillon, das wie immer um ihren Hals hing. Sie
schüttelte den Kopf und sagte: »So ein Depp.«
Ich musste lachen. »Wir brauchen überprüfbare Hinweise«, äffte ich Pohl
nach. »Schmarrn! Ich weiß schließlich, was ich gesehen habe.« Wusste ich das
wirklich?
»Freilich«, sagte Hansi. »Aber es ist ein böses Omen.«
»Was? Was ist ein böses Omen?«
»Die
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