Jagablut
Raudaschl
zu tun?«
Leitner kratzte sich am Kopf. »Wer weiß schon, was dort droben passiert
ist«, sagte er schließlich. »Das hat damals niemand verstanden und heute erst
recht nicht. Sicher ist nur, der Raudaschl Sepp ist am Abend erschossen worden
und der Munz Simon ist erst gegen Morgen gestorben. Viel mehr hat die Polizei
nicht herausgefunden. Wie ist der Tee?«
Ich übte mich in Diplomatie. »Schmeckt interessant.«
Leitner grinste. Die weißen Bartstoppeln sträubten sich. »Ich bau da so
ein paar Kräutln bei mir im Garten an.« Er zwinkerte mir zu. »Wenn S’ da
mal was brauchen …«
»Ja, äh, gern.« Der Duft des Tees erinnerte entfernt an indische Räucherstäbchen.
Ich beschloss, lieber nicht nachzufragen. »Warum ist denn der Munz-Fall vor
Gericht gelandet?«
Leitner zuckte die Schultern. »Es hat natürlich eine Untersuchung
gegeben, ob der Simon nicht vielleicht doch erschossen worden ist«, meinte er.
»Aber das ist er nicht. Nur seine Familie, die hat sich an diesen Strohhalm
geklammert. Aber wenn S’ mich fragen, dann wollten die nur ein
christliches Begräbnis für den Simon. Wer hat schon gern einen Selbstmörder als
Sohn.« Er warf mir einen bekümmerten Blick zu. »Noch dazu so kurz vor
Allerheiligen, was?«
Ich schaute wieder auf die aufgeschlagene Zeitungsseite. Deswegen wurde
wohl in der Todesanzeige kein Datum für die Beerdigung genannt. Weil noch nicht
sicher gewesen war, ob der Wilderer Simon Munz seine letzte Ruhe auf dem
Kirchhof finden durfte. »Und was hat die Obduktion genau ergeben?«
Leitner hüstelte. »Dem Simon ist zuerst in den Rücken geschossen worden …«
»Aber das hat er überlebt?«
Er nickte. »Aber mit der Muni von damals.«
»Welcher Muni?«
»Der Munition für die alten Gewehre.« Er war vielleicht ein Hippie, aber
ein Friedensaktivist schien Leitner nicht zu sein. Offenbar kannte sich hier
jeder außer mir mit Waffen aus.
»Und was heißt das?«
»Dass die Patrone sich im Körper nicht zerlegt hat.« Er schaute mich an,
als wäre damit alles klar. Aber ich zuckte die Schultern. Ich hatte keine
Ahnung, wovon er sprach. »Moderne Jagdmunition zerlegt sich im Körper, und das
getroffene Wild stirbt an einer Schockwelle. Aber früher ist so eine Kugel
einfach durchgegangen. Das war dann eben nicht immer gleich tödlich. Der Simon
wäre wohl gelähmt geblieben.« Leitner kniff den Mund zusammen und nickte.
»Gestorben ist er jedenfalls an seinem Kopfschuss.« Er setzte sich den
Zeigefinger mitten auf die Stirn und tat so, als würde er schießen. »Auch wenn
das der Familie nicht gefallen hat.«
Langsam verstand ich, was den jungen Munz zu seiner Verzweiflungstat
getrieben haben könnte. Ein junger Bauer, an den Rollstuhl gefesselt, das war
nicht nur in Alpbach der soziale Tod.
»Und was hatte Steiner damit zu tun?«
Leitner kratzte sich die weißen Bartstoppeln am Kinn. »Die Jäger haben
behauptet, sie hätten den Steiner Vinzenz am Abend davor bei der Schießerei
erkannt. Wer die anderen beiden Wilderer waren, konnten ‘s nicht sagen. War ja
schon dunkel. Und wer den Raudaschl erschossen hat, wussten ‘s erst recht
nicht.« Er zog die Brauen hoch. »Deswegen ist der Steiner Vinzenz auch als
Einziger vor Gericht gelandet. Aber seine Kumpel hat er nicht verraten.« Eine
Spur von Anerkennung schwang in seiner Stimme. »Die Waffe, mit der der
Raudaschl erschossen worden ist, hat man, glaube ich, auch nie gefunden.«
»Und deswegen ist Steiner dann freigesprochen worden?«
»In dubio pro reo.« Leitner nickte. »Und beim Munz hat der Adi – der
Dr. Mooslechner, mein ich – einwandfrei festgestellt, dass es Selbstmord
war.« Er stellte meine leere Tasse zurück auf das Tablett. »Ja, so war das
damals. Aber der Simon ist trotzdem auf dem Kirchhof beerdigt worden, weil der
Herr Pfarrer dem Jungen sein christliches Begräbnis nicht verweigern wollte.
Und die Familie hat dann auch Ruhe gegeben.«
Ich legte die Zeitung zusammen und schichtete den Stapel mürben Papiers.
»Und was ist dann passiert?« Die alte Paketschnur ließ sich schwer knoten.
Leitner hob die Brauen. »Nichts, natürlich.«
»Nichts?« Ich trug den Jahrgang 1968 zum Regal zurück.
»Das Leben geht schließlich weiter.« Leitner nahm das Tablett und wandte
sich zum Gehen. An der Tür schaute er noch einmal über die Schulter zurück.
»Die ganze Sache hat damals viel Staub aufgewirbelt. Und jetzt sind sowieso
fast alle Beteiligten tot.«
»Sie glauben, Steiner war der
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