Jagablut
oben. »Der wirft gern mit Steinen.« Sie hob einen
walnussgroßen Gesteinsbrocken auf und hielt ihn mir vor die Nase. »Da, schauen S’
her. Der Lauser hackt die Steine aus der Wand und bewirft damit unsere
Besucher. Hoffentlich sind S’ nicht verletzt?«
Trotz ihrer teilnehmenden Worte schien sie das Lachen kaum unterdrücken
zu können. Oben auf der Mauer hockte der Rabe immer noch in einer Schießscharte
und spähte zu uns herab.
»Vielleicht mag dieser Rabe keine Fremden.«
»Das is’ eine Alpendohle«, sagte sie. »Im Sommer is’ der Jackl auch kein
Problem. Da is’ er immer mit seinen Kumpels auf dem Geiereck. Aber beim ersten
Schnee kommt er herunter, nicht? Und dann wirft er halt mit Steinen.«
Anscheinend ging sie davon aus, dass ich Verständnis für dieses extravagante
ornithologische Verhalten hatte. Sie ließ ihren Blick über mich wandern. »Ich
kenn Sie doch …«
Von oben konnte ich das Kratzen von Krallen auf dem steinernen
Fenstersims hören. »Canisius, ich bin die Ärztin von Alpbach.« Über mir
raschelte es. »Vielleicht könnten wir hineingehen, ehe Ihr Jackl den nächsten
Stein wirft?«
Sofort trat sie einen Schritt zurück. »Freilich, kommen S’ nur rein.«
Sie hielt mir die Tür auf. »Mein Name ist übrigens Roswitha. Willkommen im
Hexenturm.«
Schnell trat ich über die Eichenschwelle. Hinter mir schlug etwas laut
auf der Türschwelle auf.
Das Innere des Turmes wurde von zahllosen modernen Halogenlampen erleuchtet.
Das Mauerwerk war nicht verputzt, und es gab keine Zwischendecken, sodass sich
ein beeindruckender Blick vom Erdgeschoß bis hinauf zum strahlenförmigen Gebälk
des Dachstuhls bot. Auf abgetretenen Steinplatten standen Schaukästen. Eine
hölzerne Wendeltreppe wand sich die Außenmauer entlang hinauf und verband
mehrere Balkone. Sie endete erst in der Turmspitze. An den Wänden hingen
kolorierte Stiche und Schwarz-Weiß-Fotos ne-ben alten Gerätschaften und
verschlissenen Kleidern.
Neugierig und fasziniert zugleich wandte ich mich an Roswitha. »Das ist
der Hexenturm? Warum heißt der denn so?«
Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Mädchens. »Wir befinden uns
hier im ältesten noch erhaltenen Teil einer Wehran-lage aus dem frühen elften
Jahrhundert«, berichtete sie in routiniertem Ton. »Die Befestigung diente
zunächst zur Sicherung des alten Handelswegs von Salzburg nach Italien sowie
als Mautstelle. Während der Zeit der Bauernkriege zerstört, blieben nur der
Turm sowie ein Nebengebäude erhalten. Der Turm wurde während der Hexenprozesse
im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert als Gefängnis und Gerichtsstätte
eingerichtet, was ihm auch seinen Namen gab. Noch bis ins neunzehnte
Jahrhundert hinein fanden hier Prozesse statt. In der Nacht zum 1. November
1923 wurde der Gefängnistrakt durch ein Großfeuer zerstört und in der Folge
nicht mehr aufgebaut.« Sie grinste mich an und fügte hinzu: »Wenn Sie sich für
Verliese und Folterkammern interessieren, damit können wir leider nicht mehr
dienen.«
Da und dort meinte ich, noch Brandspuren in den alten Mauern erkennen zu
können. »Und Sie sagen, das Feuer ist am 1. November ausgebrochen? An
Allerheiligen?« Das Datum verfolgte mich. Simon Munz und der Jäger Raudaschl
waren beide um diese Zeit gestorben.
Roswitha nickte. »In der Nacht auf Allerheiligen. Damals is’ auch ein
Holzknecht aus dem Dorf verschwunden. Man nimmt an, dass er den Brand gelegt
hat.« Sie zuckte die Schultern. »Der Turm ist jedenfalls ein halbes Jahrhundert
ungenutzt geblieben. Erst 1965 hat dann der Fremdenverkehrsverein ein Museum
draus gemacht. Der Besuch ist kostenlos, außer Sie wollen eine Führung.«
»Ich würde mich gerne selbst umsehen, wenn das geht.«
»Alles klar. Dann folgen S’ einfach den grünen Pfeilen an der Wand,
und wenn S’ doch Fragen haben – ich sitz da vorn beim Wilden Mann.«
Roswitha schenkte mir noch ein Grübchenlächeln und ging zu einem kleinen
Schreibtisch am Fuß der Treppe, auf dem ein aufgeschlagenes Modemagazin und ein
Strickzeug lagen. An der Wand dahinter standen zwei zottelige Riesen. Sie waren
fast zwei Meter groß, und Tannenzapfen baumelten an langen Schnüren vor ihren grimmig
bemalten Holzgesichtern. Roswitha setzte sich hinter den Schreibtisch und nahm
ihr Strickzeug auf. Die unheimlichen Gestalten schauten ihr über die Schulter,
als wollten sie ihr Tun überwachen.
»Sind das Faschingskostüme?« Ich zeigte auf die zwei.
»Die hier?« Sie schüttelte
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