Jagablut
Letzte, der damals dabei war?«
Leitner drehte mir den Rücken zu. Sein Pferdeschwanz ringelte sich
zwischen seinen Schulterblättern. »Ich glaube gar nix«, meinte er. »Sind Sie
hier unten fertig? Dann seien Sie doch so gut und machen das Licht aus. Wenn
Sie sich für die alten Geschichten interessieren, dann gehen Sie doch mal ins
Heimatmuseum. Ich meine, die haben eine ganze Abteilung über Jagd und
Wilderei.«
Abendwolken türmten sich am Himmel, und die Berge verschwammen
im zunehmenden Herbstdunkel, als ich zum Jagawirt zurückfuhr. Über den feuchten
Wiesen schwebten Nebelgespinste. Allerheiligen stand vor der Tür, der Jahrestag
des Todes von Simon Munz. Vor allen Häusern lagen schon ausgehöhlte Kürbisse
mit grinsenden Gesichtern. Die flackernden Kerzen in ihrem Inneren hauchten
ihnen Leben ein. Bald würden nach Einbruch der Dunkelheit Kinder als
Schreckgespenster verkleidet von Tür zu Tür ziehen und Süßigkeiten verlangen.
Die Kelten glaubten, dass sich die Toten in der Nacht vor Allerheiligen unter
die Lebenden mischten. Was wohl Simon Munz und Vinzenz Steiner zu erzählen
hätten, wenn sie für diese Nacht nach Alpbach zurückkämen? Der Selbstmörder und
das Mordopfer? Oder der erschossene Jäger Josef Raudaschl? Mich interessierte
zwar mehr, was die Lebenden zu sagen hatten, doch nach über vierzig Jahren
schien sich niemand mit mir über die Ereignisse im Jahr 1968 unterhalten zu wollen.
Überall stieß ich auf misstrauische Blicke und ausweichende Antworten.
Der Nebel wurde dichter und verschluckte die dunkle Welt um mich herum.
Ich konzentrierte mich auf den schmalen Streifen Asphalt, der im Licht der
Scheinwerfer zu glimmen schien. Endlich tauchten das ausladende Dach und die
hell erleuchteten Fenster des Jagawirts aus dem Dunst auf.
Ich stellte den Landrover ab und lief schnell zur Eingangstür. Direkt vor
den Stufen parkte Jacqueline Seywalds roter Sportwagen, sodass ich erst um das
Auto herumgehen musste. In der Halle brannten alle Lampen, und die Tochter des
Wirtes stand an dem kleinen Holztisch. Mit einem Kugelschreiber hakte sie eine
Liste von oben nach unten ab. Als ich eintrat, hob sie den Kopf. Es dauerte ein
paar Sekunden, bis sie mich erkannte, dann stemmte sie die Fäuste in die
schmale Taille. Sie trug einen kniekurzen schwarzen Trenchcoat und schwarze
Lacklederstiefel, was ihr zusammen mit den langen blonden Haaren das Aussehen
eines Bondgirls gab und einen reizvollen Kontrast zu dem ausgestopften Auerhahn
über ihr bildete.
»Frau Dr. Canisius«, sagte sie.
Diese Anrede hatte sie noch nie gebraucht. Ich blieb stehen. Die Schleiereule
an der gegenüberliegenden Wand schien auf das alte Telefon auf dem Holztisch
herabstoßen zu wollen. Zwischen ihren Fängen lugte der Kopf der Maus hervor.
»Ist was passiert?«
»Das kann man wohl sagen. Also ich bin ja ganz empört.« Sie warf mit einer
Kopfbewegung ihr Haar über die Schulter, um zu zeigen, wie empört sie war. »Sie
kennen doch diese Stallners aus dem Obergeschoss?«
»Kennen ist vielleicht zu viel gesagt …« Tatsächlich hatte ich die
alte Frau nur ein einziges Mal gesehen, und das war an dem Nachmittag gewesen,
als wir nach Vinzenz Steiner gesucht hatten. Ihr Sohn schien das Essen für sie
immer aus der Küche zu holen. Wenn ich ihm im Gasthof begegnete, ignorierte er
mich. Inzwischen verzichtete ich auch auf einen Gruß.
»Dieser Stallner …« Sie fixierte mich mit ihren dunklen Augen und
erinnerte dabei an ihren Vater. »Dieser Stallner hat doch die Stirn zu
behaupten, dass er hier keine Miete zu zahlen braucht. Können Sie sich das
vorstellen? Wissen Sie, dass der Typ mit seiner Hexe von Mutter zwei der
schönsten Zimmer bewohnt? Zwei Zimmer? Und sich hier vollfrisst wie die Made im
Speck? Haben Sie überhaupt schon gesehen, wie fett der ist?« Sie reckte ihren schlanken
Körper. »Und alles auf meine Kosten.«
»Wenn die Stallners mit der Miete im Rückstand sind …«
»Was heißt hier Rückstand? Der zahlt gar nichts. Der behauptet, er und
seine Mutter hätten ein Wohnrecht. Aber da ist das letzte Wort noch nicht
gesprochen. Der Stefan«, sie machte einen eleganten Schlenker mit der Hand,
»das ist mein Gatte, also, der Stefan sagt auch, gleich morgen gehen wir zum
Anwalt.«
Ich dachte an das muffige Zimmer, in dem ständig der Fernseher lief. »Und
er hat wirklich ein Wohnrecht gemeint?« Das würde erklären, wie die Stallners
sich den Aufenthalt im Jagawirt leisten konnten. Aber die
Weitere Kostenlose Bücher