Jagablut
Türrahmen der Hütte stand eine Frau mittleren
Alters in einer Arbeitsschürze und neben ihr ein barfüßiger Junge von
vielleicht fünfzehn Jahren. Sie hatten die Augen gegen das Sonnenlicht
zusammengekniffen, trotzdem kamen sie mir irgendwie bekannt vor. Auf einmal
wurde mir heiß. Schnell drehte ich die Postkarte um und suchte nach der
Beschriftung. Die Aufnahme war etwa vierzig Jahre alt. Das Alter stimmte also.
»Roswitha … kennen Sie zufällig die Menschen hier auf dem Bild?« Ich
hielt ihr die Karte hin.
»Die Sennleut?« Sie runzelte die Stirn und betrachtete das Foto. »Sind
das nicht die Maria und der Hannes?«
»Maria und …?«
»Ihr Sohn Johannes.«
Mein Mund fühlte sich trocken an. »Und weiter?«
Roswitha rümpfte die Nase. »Stallner heißen die. Die bewirtschaften die
Alm aber schon lang nicht mehr.«
»Und wann sind die beiden dort weggezogen?«
»Eine Alm wird nur im Sommer bewirtschaftet, da lebt doch keiner. Und die
Stallners waren sowieso nur Tagelöhner. Die schreiben sich auch Stallner.« Sie
machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Was heißt das?«
Roswitha seufzte. »Dass das kein Hofname ist«, sagte sie. »Die Bauernhöfe
bei uns haben auch Namen. Genau wie ihre Besitzer. Nur dass der Hofname über
Jahrhunderte immer gleich bleibt und der Name der Besitzer wechselt. Verstehen S’?«
Ich nickte.
»Deshalb, wenn S’ einen Hof haben, dann können S’ bei uns mit
dem Schreibnamen oder mit dem Hofnamen angeredet werden.« Sie überlegte kurz.
»Der Hofname ist gebräuchlicher. Aber die Stallners haben keinen Hof.«
»Und daher auch keinen Hofnamen, klar.« Ich klimperte mit ein paar Münzen
in meiner Jackentasche.
Roswitha steckte die beiden Karten in ein Papiersäckchen.
»Wissen Sie vielleicht, wann die Stallners aufgehört haben, als Sennleute
zu arbeiten?«
»Na, dreißig, vierzig Jahre werden’s schon her sein.«
So beiläufig wie möglich fragte ich: »Wegen der Schießerei damals?«
Roswitha lachte und reichte mir die Tüte mit den Ansichtskarten. »Die
berühmte Wildererschlacht, meinen S’? Na, wenn das kein Grund wär, was?
Aber deswegen sind die Stallners nicht weg.«
»Sondern?« Ich fischte die Münzen aus der Tasche.
Dornröschen warf den Wilden Männern einen Blick zu, dann beugte sie sich
über den Tisch, als gelte es, ein Geheimnis zu wahren. »Die Stallner Maria hat
doch geerbt.« Sie richtete sich wieder auf. »Eine Million, wird geredet.«
Vielleicht hatte Johannes Stallner doch nicht gelogen und Steiner Geld
geliehen. »Weiß man, von wem sie geerbt hat?«
Roswitha zuckte die Achseln. »Von einem Onkel in der Stadt, heißt’s.«
»Ach.« Bisher war mir unklar gewesen, wie Stallners sich den Jagawirt
leisten konnten. Nun fragte ich mich, warum zwei Millionenerben sich
ausgerechnet in dem alten Gasthof eingemietet hatten. »Das ist ja interessant.
Na ja, vielleicht erben wir ja auch mal eine Million, was? Irgendwann schaue
ich mir den Rest der Ausstellung an.« Die Dämonen hinter Roswitha lugten durch
die Tannenzapfenschnüre vor ihren Gesichtern. Ihre rot lackierten Münder
lachten. Rasch drehte ich mich um und ging zum Ausgang.
Als ich die schwere Eisentür des Turmes aufzog, war die Temperatur
draußen noch einmal gefallen. Ein zinnfarbener Himmel hing tief über dem Tal,
und ein kalter Wind trieb in Wirbeln totes Laub über den Burghof. Ich schlug
den Kragen meiner Jacke hoch und machte einen großen Satz über die Türschwelle.
Der Stein traf den Boden hinter mir. Gleich darauf hörte ich wütendes
Kreischen, und Jackl schoss von der Mauer herab. Mit metallischem Flügelschlag sauste
er über den Ziehbrunnen und verschwand in Richtung der Berge.
FÜNFZEHN
Am Sonntagmorgen erstrahlte die Halle des Jagawirt in
ungewohnter Helligkeit. Die Sonne schien durch die Fenster der Eingangstür, und
goldene Staubkörnchen wirbelten um die Trophäen an den Wänden. Zahllose grobe
Stiefel hatten feuchte Spuren auf dem Steinboden hinterlassen. Aus der
Gaststube waren laute Männerstimmen und Gelächter zu hören.
Ich durchquerte die Halle, wobei ich versuchte, den Wasserlachen auf dem
Boden so gut wie möglich auszuweichen. Dann zog ich die Tür auf. Fasziniert
blieb ich auf dem Treppenabsatz stehen. Über Nacht war Schnee gefallen. Er
türmte sich links und rechts von der Eingangstür und lag dick auf den mit
Latschenkiefernzweigen gefüllten Blumenkästen. Er verwischte die harten
Konturen der großen Linde auf dem Vorplatz und glitzerte in
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