Jagablut
den Kopf. »Das ist der Wilde Mann.«
»Beide?«
»Tannenzapfenmandl und Waldmandl sind der Wilde Mann«, sagte sie. »Das
sind Naturdämonen, die den Schnee von den Bäumen und Dächern kehren.«
»Ach, so ist das.« Ich kehrte den Dämonen etwas widerstrebend den Rücken
und machte mich an meinen Rundgang.
Der erste Schaukasten war vom Alpbacher Ski-Club gestaltet worden.
Sepiafarbene Fotos waren mit Stecknadeln auf einer grauen Filzwand befestigt,
darauf waren strahlende Menschen in Knickerbockerhosen und Tweedjacken in
bräunlichem Schnee abgebildet. Angesichts der dokumentierten Schneelage schien
mir die Ausrüstung recht dürftig. Ein Foto zeigte den ersten Skilehrer von
Alpbach, der auf einem Ski kniend einen Hang hinunterfuhr, während er einen langen
Stock zur Balance quer zur Fahrtrichtung hielt. Daneben hing das Gruppenfoto
der Gründungsmitglieder des Ski-Clubs von 1905. Auf dem Boden des Schaukastens
lagen ein Holzstock, genagelte Skischuhe und ein paar Bretter mit rissiger
Lederbindung und rostigen Schnallen. Auch der nächste Glaskasten war dem
Wintersport gewidmet, enthielt aber Farbfotos, glänzende Pokale und Medaillen.
Ich besah mir diese Sammlung nur kurz, ging dann um einen mit alten Äxten
und Seilrollen dekorierten Zugschlitten herum und folgte den grünen Pfeilen,
die durch die Ausstellung führten. Stufe für Stufe stieg ich die Wendeltreppe
hinauf. Ich kam an Aufnahmen vorbei, die historische Ansichten von Alpbach
zeigten: bäuerliches Leben und Kinder aller Altersgruppen in der einklassigen
Dorfschule; ein Metzger in weißer Schürze hielt ein langes Messer in der Hand,
mit der anderen packte er das Halfter eines mächtigen Stiers, der
vertrauensvoll in die Kamera blickte.
Erst die zweite Galerie, die rund um den Turm lief, war der Jagd gewidmet.
Und, wie Viktor gesagt hatte, der Wilderei. An der Wand hing ein
Leinenrucksack, wie ich ihn in der Abstellkammer des Jagawirts gesehen hatte.
Ein ausgestopftes Reh steckte darin. Auf einem Schild war zu lesen: »… der ohne wissen und willen irer genaden jagt oder vischt,
wo der betretten, ist umb die augen. Recht des marktes Alpbach 1589«.
Ein paar Schritte weiter hing ein Pulverhorn mit Schnitzereien, das laut
Begleittext einem Alpbacher Wilderer im Jahre 1856 abgenommen worden war.
Welche Strafe der Mann wohl bekommen hatte? Im neunzehnten Jahrhundert waren
Wilderern wohl hoffentlich nicht mehr die Augen ausgestochen worden.
Ein weiteres Bild zeigte zwei junge Männer, die sich in eine Almhütte
flüchteten, während sich im Hintergrund schon der Jagdherr zu Pferd mit Jäger
und Hund näherte.
Ich ging an vielen alten Gewehren, Rucksäcken und Bildern vorbei, doch
nichts davon stammte aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Das Drama am Geiereck war
nirgends dokumentiert. Auf die Sonderausstellung zum Thema Almwirtschaft
verzichtete ich und machte mich an den Abstieg.
Flankiert von den Naturdämonen, saß Roswitha hinter ihrem Schreibtisch
und zählte konzentriert die Maschen ihrer Strickarbeit. Sie blickte nicht
einmal auf, als ich vor ihr stehen blieb.
»Vierundzwanzig, fünfundzwanzig«, zählte sie. »Und? Hat’s Ihnen gefallen?
Möchten S’ noch unseren Katalog oder ein paar Ansichtskarten?«
»Nein, danke.« Dann fiel mir ein, dass mein Vater bald Geburtstag hatte,
und ich beschloss, ihm eine Dorfansicht zu schicken, um ihm meinen neuen
Lebensmittelpunkt im Busch , wie er es
nannte, nahezubringen. »Oder vielleicht doch.«
Roswitha legte ihre Handarbeit beiseite, zog eine Schublade auf und
entnahm ihr einen Packen bräunlicher Karten. »Wir hätten so alte Fotos, die
auch in der Ausstellung hängen. Was würden S’ denn brauchen?«
»Irgendwas von Alpbach. Ein paar alte Häuser, schlammige Straßen und
Pferdefuhrwerke.« Mein Vater würde die Ironie verstehen und über die Karte
schmunzeln. Aber meine Mutter hätte sicher lieber Fotos einer modernen Praxis.
Für die Freundinnen im Reitclub. Ich würde ihr eine schöne Landschaftsaufnahme
schicken. »Gibt es auch ein Bild von der Geieralm? Da hab ich mal eine
Wanderung hin gemacht.«
Roswitha nickte und suchte in ihren Karten. Dann legte sie die
gewünschten Motive vor mich auf den Tisch. »Das wär jetzt Alpbach um 1910, und
hier ist eine Aufnahme von der Hütte auf der Geieralm.«
Ich nahm die Postkarte und sah mir die Schwarz-Weiß-Fotografie an. Die
Holzhütte und die Bank, auf der ich gesessen hatte, waren deutlich zu erkennen.
Und auch das helle Kruzifix. Im
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