Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jagablut

Jagablut

Titel: Jagablut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
Vom Netzwerk:
schwarzen
Aktenordner standen dicht an dicht. Und auf einem lag das lederne Notizbuch des
alten Mooslechner.
    Viktor hatte mir aus dem schmalen Band das traurige Gedicht aus der Zeit
der Protestantenverfolgung vorgelesen. Warum hatte er das Büchlein nicht an
seinen Platz zurückgestellt, sondern quer auf den Aktenordner gelegt? Auf
einmal kam mir sein Verhalten seltsam vor.
    Ich legte den Rest meines Brotes auf den Teller und ging zum Regal
hinüber. Seite für Seite blätterte ich das Notizbuch durch, konnte aber keine
Veränderung feststellen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, etwas zu übersehen. Was
hatte Viktor hier gewollt? Hatte er etwas gesucht? Ich zog den Aktenordner, den
er, so schien es mir jetzt, mit dem Notizbuch markiert hatte, heraus. Darin
befanden sich, sauber abgeheftet, alte Patientenkarteien. Ganz zuoberst, und
außerhalb der alphabetischen Reihenfolge, die von Simon Munz. Hatte Viktor die
Kartei in der Hand gehabt? Hatte er sie etwa mitnehmen wollen und war von mir
gestört worden?
    Ich nahm die Kartei heraus, setzte mich damit an den Tisch und überflog
die handschriftlichen Aufzeichnungen meines Vorgängers. Simon Munz hatte nur
selten den Arzt aufgesucht. Außer ein paar Bagatellkrankheiten hatte ihm nichts
gefehlt, bis auf einmal, als er bei der Heuernte in einen Rechen getreten war.
Dann war er mit vierundzwanzig Jahren verstorben.
    Dr. Adolf Mooslechner war als Sprengelarzt auch für die Totenbeschau
bei Simon Munz zuständig gewesen. Im Beschaubefund war sein Tod mit Name,
Datum, Todeszeitpunkt ordentlich dokumentiert. Auch die Todesursache fehlte
nicht: »Selbstmord durch aufgesetzten Kopfschuss, Schusseintritt zwischen den
Augen, Schussaustritt am Hinterkopf.« Kein Wunder, dass Johannes Stallner überall
Hirnmasse gefunden hatte. Der Beschaubefund war zur Bestätigung durch den
Amtsarzt an die Bezirkshauptmannschaft und das Bestattungsunternehmen gegangen.
Natürlich hatte der Amtsarzt die Leiche nicht gesehen, aber wenn ihm die
Todesursache plausibel erschienen war, hatte er keinen Grund gehabt, seine
Unterschrift zu verweigern. Da hatte mir Johannes Stallner eine schöne
Räuberpistole erzählt.
    Ich heftete die Karteikarte nicht wieder in den Ordner, sondern schob sie
stattdessen in den Bildband über die Alpenüberquerung im 19. Jahrhundert.
Auch dieses Buch hatte Viktor in der Hand gehabt. So würde ich die Karte
jederzeit wiederfinden. Und zwar nur ich. Dann bat ich Miranda, die
Nachmittagssprechstunde wegen eines Notfalls zu verschieben. Ich musste noch
einmal mit Johannes Stallner reden.
    Auf dem Weg zum Jagawirt kam mir der Notarztwagen entgegen. Er fuhr ohne
Blaulicht, trotzdem zog sich mein Magen zusammen. Vor dem Gasthof parkte
Viktors schwarzer Pick-up, daneben ein Polizeiauto. Direkt vor den
Eingangsstufen stand ein Leichenwagen.
    In der Halle waren der Alpbacher Postenkommandant Walter Grabner, Georg
Kaml und Viktor in ein leises Gespräch vertieft. Bei meinem Eintreten wandten
sie mir ihre Gesichter zu. Alle wirkten angespannt, sogar Grabner. Obwohl es in
der Halle eher kühl war, wischte sich der ältere Polizist mit einem Taschentuch
Schweiß von der Stirn. Auch das Gesicht von Georg Kaml war aschgrau, und er
atmete schwer. Seine klobigen Arbeitshände hatte er wie im Gebet gefaltet und
erweckte dabei den Eindruck, als würde sich die eine Hand an der anderen
festhalten.
    War etwas mit Hansi passiert? Den ganzen Morgen hatte ich nicht an unser
Gespräch in der letzten Nacht gedacht. Jetzt fiel es mir wieder ein. »Ist was
mit Hansi?«
    »Hey, Emma«, sagte Viktor. Seine Stimme klang belegt. »Nein, mit der
Hansi ist alles in Ordnung.« Er räusperte sich. »Soweit man das sagen kann.«
    »Ja, was … was ist dann passiert?« Ich schaute die Männer der Reihe
nach an, aber sie wichen meinen Blicken aus. »Vor dem Haus steht ein
Leichenwagen.«
    Niemand rührte sich. Die Menschen schienen so leblos wie die
ausgestopften Tiere an den Wänden. Schließlich ergriff Grabner das Wort. »Kein
Grund zur Aufregung, Frau Doktor«, sagte er förmlich. »Der alte Wenghofer is’
heute Morgen verstorben. Der Notarzt war schon da und hat den Tod
festgestellt.« Kein Bedarf für einen zweiten Arzt.
    »Wie – gestorben?«
    Viktor räusperte sich. »Er hat sich vor etwa einer Stunde in seinem
Zimmer erschossen.«
    »Was?« Das konnte ich nicht glauben.
»Erschossen? Er … er hat Selbstmord begangen?« Der,
der heute Nacht stirbt, der muss mit der
Weißen Frau gehen . Hansis

Weitere Kostenlose Bücher