Jagablut
Leben …«
Ich schob meine Hand unter Viktors Arm, spürte die weiche Wärme seines
dicken Lammfellmantels und ein tröstliches Drücken. Er war heute wortkarger als
gewöhnlich, und als ich ihm ins Gesicht schaute, bemerkte ich, dass er mit
zusammengekniffenen Augen die Menge absuchte.
»Was ist los?«, flüsterte ich.
»Hast du den Kaml Schorsch irgendwo gesehen?«
Ich überlegte. »Nein … nein, ich glaube nicht.« Eigentlich hatte ich
mich mehr gewundert, dass die Stallners nicht erschienen waren. »Mir scheint
aber, dass Kaml und Wenghofer sowieso keine Freunde waren.« Ich konnte mich
noch gut an die Auseinandersetzung erinnern, deren Zeuge ich bald nach meiner
Ankunft geworden war. Ich hatte Wenghofer in Steiners Wohnung ertappt. Schnüffelst wieder rum, Wenghofer? Soll ich dir dabei helfen? Kamls
Stimme war voller Spott und Verachtung gewesen. Verreck’n
sollst, Kaml. Mit dir red ich nicht. Woher dieser blanke Hass? Und was
hatte der Alte bloß in Steiners Wohnung gesucht? »Glaubst du wirklich, Wenghofer
hatte etwas mit Steiners Tod zu tun?«, fragte ich leise.
»… so beten wir für den Menschen aus unserer
Mitte, der als Erster dem Verstorbenen nachfolgen wird …«
Viktor zögerte mit einer Antwort. Gerade als er etwas sagen wollte,
drehte sich eine ältere Frau zu uns um. Ihr grüner Lodenmantel spannte über dem
ausladenden Hinterteil.
»Ja, grüß Gott, Frau Doktor. Furchtbar, gell, das mit dem Gregor? Hat ja
so kommen müssen.« Ihr Blick huschte von mir zu Viktor und wieder zurück und
blieb an meinem untergehakten Arm hängen. »Schauen Sie eh gut nach der
Johanna?«
Offenbar meinte sie Hansi. »Natürlich.«
»Tapfer, dass sie überhaupt mitgegangen ist.« Sie nickte ein paarmal.
»Nach ihrem Zusammenbruch beim letzten Mal. Aber heut is’ sicher nicht so
schlimm für sie. Und schließlich gehört ‘s ja doch fast zur Familie.«
Das war mir neu. »Steiners und Munz sind verwandt?«
Die dicke Frau wurde von ihrer Nachbarin in die Seite geboxt. Sie zuckte
die Schultern und drehte sich wieder um.
Viktor beugte sich zu meinem Ohr und flüsterte: »Ich erklär’s dir
nachher.«
Der Pfarrer hatte seine Gebete beendet.
»So nimm denn meine Hände und führe mich …«
Die Stimme der Sängerin am Grab stieg hell und metallisch klar direkt in
den Himmel auf. Als sie geendet hatte, wurde der Sarg langsam an blauen Seilen
in die Erde gesenkt. Die Trauerfamilie trat als Erste an den Rand der Grube.
Hansi bewegte die Lippen wie im Gebet. Dann hob sie stolz den Kopf und warf die
weißen Lilien dem Verstorbenen hinterher.
Ich beugte mich zu Viktor.
»Wieso wird Wenghofer eigentlich auf dem Kirchhof beerdigt?«, fragte ich
so leise wie möglich. »Wenn er doch ein Selbstmörder ist oder ein …
Mörder?«
»Das verstehst du nicht.« Viktor sah mich nicht an.
Natürlich nicht. Ich war ja keine Alpbacherin. »Aber der Pfarrer muss
doch auch seine Vorschriften haben«, beharrte ich. »Kann der denn so einfach …?«
»Unser Pfarrer gehorcht nur seinem Gewissen.«
»Ach, wirklich.« Ich war fest davon überzeugt, dass es da noch einen
anderen Grund geben musste. »Könnte es nicht sein, dass hier alle der Meinung
sind, der Mörder vom Steiner habe sich selbst gerichtet und nun ist der
Gerechtigkeit Genüge getan? Schwamm, besser gesagt Erde drüber?«
In Viktors Wange zuckte ein Muskel. Offenbar beschäftigte ihn die Sache
mehr, als er zugab.
»Wenn der Fall damit zu den Akten gelegt wird«, fuhr ich fort, »dann wird
vielleicht ein Unrecht für immer ungesühnt bleiben. Niemand wird erfahren,
warum Steiner sterben musste, und Wenghofer wird als Mörder in die Alpbacher
Chronik eingehen.«
Viktor seufzte. »Was willst du eigentlich, Emma? Der ganze Ort ist froh,
dass die Geschichte endlich zu Ende ist. Also, lass es jetzt gut sein.«
»Wo hab ich das nur schon gehört?« Ich zog meinen Arm unter seinem raus.
Neben dem Grab hatten die Hinterbliebenen Aufstellung genommen. Die lange
Schlange an Trauergästen schob sich an ihnen vorbei. Viele reichten nicht nur
der Nichte, sondern auch Hansi die Hand und drückten ihr Beileid aus. Der
Pfarrer hielt das Gebetbuch in den gefalteten Händen und neigte den
Kondolierenden sein Gesicht zu. Hin und wieder sprach er ein paar Worte.
Die Schlange war endlos lang. Langsam sank die Sonne auf die Berge herab,
hinter deren Gipfeln gelbgraue Wolken hervorkrochen. Heftige Schneefälle waren
angekündigt, und in der Luft lag eine eigenartige
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