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Jagablut

Jagablut

Titel: Jagablut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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auf einmal war er weg.«
    Hansi neigte erst den Kopf zur Seite, dann hob sie ihr Gesicht zu dem
Kruzifix in der Zimmerecke empor und bewegte stumm die Lippen, als bete sie.
Statt der getrockneten Blumen steckten jetzt frische Tannenzweige, an denen
noch Tannenzapfen hingen, hinter dem Kreuz. Ihr würziger Duft durchzog die
Luft.
    »Amen«, sagte Hansi endlich und seufzte. Dann wandte sie sich an mich und
fügte hinzu: »Jetzt können S’ getrost zu Bett gehen. Ihnen wird nichts
passieren.«
    Ihre Stimme klang so überzeugend, dass ich mich tatsächlich beruhigter
fühlte. Auf einmal war ich mir meiner Beobachtung auch nicht mehr sicher. Wer
konnte schon sagen, was ich da draußen im trügerischen Mondlicht gesehen hatte?
Die Ereignisse der letzten Zeit hatten offenbar an meinen Nerven gezerrt.
    »Gibt es hier so was wie Polarlicht?«, fragte ich.
    Hansi schüttelte den Kopf. »Polarlicht nicht, aber bei klarem Himmel kann
man jede Menge Sternschnuppen sehen.« Sie zwinkerte mir zu. »Dann sollten S’
sich was wünschen.«
    »Gute Idee.« Ich konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. »Ich hätte da
zurzeit eine ganze Liste. Gute Nacht und … ich weiß auch nicht, was ich
gesehen habe.«
    Ich drehte mich um und hatte die Hand schon auf der Türklinke, als ich
Hansis sanfte Stimme hinter mir hörte.
    »Die Weiße Frau«, sagte sie. »Die sucht den Toten.«
    Ich drehte mich um. »Was?«
    Hansi bückte sich und hob eins der Bilder vom Boden auf. »Der, der heute
Nacht stirbt, dessen Seele muss mit der Weißen Frau gehen.« Sie strich über die
zerknitterte Porträtaufnahme. Dann schaute sie mich an und lächelte
verschmitzt. »Aber Sie sind ja noch ganz lebendig.«
    Ich musste lachen, so offensichtlich nahm sie mich auf den Arm. Bis ich
in mein Zimmer zurückkam, war auch der letzte Rest Besorgnis von mir
abgefallen. Aus Gewohnheit, so versicherte ich mir, versperrte ich trotzdem die
Tür.

SECHZEHN
    Ich hängte mir das Stethoskop um den Hals und warf einen möglichst
unauffälligen Blick auf meine Armbanduhr. Es war gleich Mittag, und die alte
Frau Meixner, die letzte Patientin aus meinem übervollen Wartezimmer, hatte
sich gerade erst mühsam hingesetzt und eine Batterie von noch ungeöffneten
Medikamentenschachteln auf meinem Schreibtisch aufgebaut. Sie war zwar immer
mal wieder zum Arzt gegangen, hatte aber die verschriebenen Tabletten lieber
nicht genommen. Nun wollte sie mit der jungen Frau Doktor, von der sie schon
viel Gutes gehört hatte, einen Neuanfang machen. Welches Medikament half denn
nun gegen welche Krankheit? Ich rief Miranda herein und bat sie, die Schachteln
mit dem längst verstrichenen Ablaufdatum zur Entsorgung mitzunehmen und mir ein
Sandwich zu besorgen. Dann erklärte ich Frau Meixner geduldig ihren Gesundheitszustand
und schickte sie stolz mit einem neuen Rezept zur Apotheke.
    Ich hatte mir angewöhnt, zu einem schnellen Mittagessen in den Jagawirt
zu fahren, doch an Tagen wie diesem blieb oft nur eine kurze Pause in meinem
privaten Büro. Inzwischen hatte ich über zweitausend Patienten aus Alpbach und
dem Umland in meiner Kartei, und die Ordinationsstunden machten nur den
geringeren Teil meiner Arbeitszeit aus. Immer wieder wurde ich zu Notfällen
gerufen, Sportunfällen, wie sie in der Region häufig vorkamen. Für Hausbesuche
blieb überhaupt nur am Abend Zeit. Es gab keinen Kollegen, dessen zweite
Meinung ich einholen konnte, der nächste Facharzt war eine Stunde Fahrzeit
entfernt in Salzburg, ich musste mich auf mein eigenes Urteil verlassen. Aber
mein Erfolg gab mir recht. Und es machte mich glücklich, näher an den Patienten
zu sein, als es in der Stadt möglich war. Ich war so mit Arbeit ausgelastet,
dass die Ereignisse der letzten Wochen mir fast unwirklich erschienen, sobald
ich den Jagawirt hinter mir ließ. In den Weihnachtsferien wollte ich mir eine
endgültige Bleibe suchen.
    Miranda hatte mir ein Schinkenbrot und eine Flasche Mineralwasser in mein
Büro gestellt. In letzter Zeit reichte es meistens nur zu einem kalten
Mittagessen. Seit Viktors Besuch hatte sich nichts in diesem Raum verändert.
Meine guten Vorsätze, die alten Unterlagen durchzusehen und zu ordnen, waren am
Zeitmangel gescheitert. Noch immer reihten sich die abgestoßenen Rücken der
medizinischen und geschichtlichen Bücher in den Regalen und stapelten sich die
Landschaftsbildbände. Nur die Jagdzeitschriften hatte ich der Reinigungsfrau
zum Fensterputzen überlassen. Die mit der Hand beschrifteten

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