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Jagablut

Jagablut

Titel: Jagablut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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Spannung. Inzwischen war ich
mit dem wechselnden Wetter vertraut. Oft glitzerte das verschneite Tal
märchenhaft in der Wintersonne, dann wieder legte sanfter Schneefall eine weiße
Puderschicht auf die gefrorenen Flächen. Aber manchmal tobte und heulte der
Sturm, sperrte die Menschen in ihren Häusern ein und verfrachtete Schneewehen auf
die Straßen und machte sie unpassierbar.
    Die Grabsteine unter ihren weißen Hauben strahlten eine eigene Kälte aus.
Ich trat von einem Fuß auf den anderen, um meinen Kreislauf in Bewegung zu
bringen. Der gefrorene Kies unter meinen Sohlen knirschte. Die Frau im
Lodenmantel drehte sich um und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
    Auf einmal fragte ich mich, was ich hier eigentlich tat. Ich hatte Gregor
Munz vulgo Wenghofer das letzte Geleit geben wollen. Zwar hatte die Obduktion
Selbstmord ergeben, aber war ich ihm nicht mehr schuldig, als zuzusehen, wie er
nun auch noch als Mörder beerdigt wurde? Dass Wenghofer den Wirt nicht
umgebracht hatte, stand für mich außer Zweifel. Niemals hätte er Vinzenz
Steiner das Jagdmesser in die Brust rammen können. Dazu fehlte ihm nicht nur
die Kraft in den Armen. Man brauchte dafür auch einen sicheren Stand. Und der
alte Wenghofer war auf einen Stock angewiesen gewesen.
    Ich konnte hier nicht weiterleben und -arbeiten, in dem ständigen
Bewusstsein, dass ich ein Unrecht hätte verhindern müssen und es nicht getan
hatte. Außerdem – wenn Wenghofer nicht der Täter war, dann lief der Mörder
noch frei herum. Und auch dazu müsste ich für immer schweigen. Dann war ich
nicht besser als die Dorfbewohner mit all ihren Geheimnissen. Jeden Morgen
würde mir im Spiegel das Gesicht eines Feiglings entgegensehen.
    »Ich geh zurück zum Jagawirt«, sagte ich lauter als beabsichtigt.
    Rasch schritt ich den Weg zwischen den Gräberreihen entlang, immer darauf
bedacht, nicht auszurutschen. Am Friedhofstor drehte ich mich noch einmal um.
Viktor starrte mir mit verkniffenem Gesichtsausdruck hinterher.
     
    Der wuchtige Bauernschrank warf Schatten in den
Eingangsbereich meines Zimmers. Wie ein Torhüter schien er den Raum zu
bewachen. Ich schaltete das Licht ein, und die Jagdszenen auf den Türen füllten
sich mit Leben. Warum trugen die altmodischen Jägerfiguren nur Tierköpfe? Eh ich’s vergess – den Bauernschrank im Vorraum können S’
nicht benutzen. Die Holztreppe hatte geknarrt, als Steiner an meinem ersten
Abend im Gasthof mit mir gesprochen hatte. Gut möglich, dass Wenghofer damals
dort vor der Tür gestanden und gelauscht hatte.
    Nachdenklich betrachtete ich den Schrank, der so lange Zeit den geheimen
Eingang zum Gasthof verdeckt hatte. Der Hase im roten Jagdrock zielte mit dem
Gewehr auf ein Gebüsch. Im Hintergrund, halb versteckt hinter einem dicken
Baumstamm, entdeckte ich noch einen Fuchs. Die schwarze Schnauze hämisch
verzogen, zwei tote Häschen im Rucksack, stahl er sich heimlich davon. Der Hase
und der Fuchs stellten offenbar einen Jäger im roten Rock und einen Wilderer
mit geschwärztem Gesicht dar. Und auf einmal begriff ich. Durch diesen Schrank
waren im Laufe der Jahrhunderte nicht nur verfolgte Protestanten den Schergen
des Erzbischofs entkommen. Auch so mancher Freischütz musste auf diesem Weg der
Obrigkeit entwischt sein. Die Malerei wies den Weg in die Freiheit.
    Es sind eh nur alte Buchhaltungsunterlagen darin . Wozu der
Hinweis? Mein Angreifer hatte auch den Schrank durchsucht. Wer? Wenghofer? Ich hatte ihn in Steiners Wohnung vor der
Bauerntruhe ertappt. Vielleicht war sein Gefühlsausbruch angesichts der weißen
Gams Theater gewesen, und er hatte mich nur von dieser Truhe ablenken wollen. Je
mehr ich darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher schien mir diese Lösung.
Aber was hatte er gesucht?
    Wahrscheinlich wäre ich nie auf die Idee gekommen, der Wohnung des Wirtes
noch einmal einen Besuch abzustatten, wenn die Gelegenheit nicht so günstig
gewesen wäre. Der Gasthof war wegen des Todesfalls geschlossen, ein Teil seiner
Bewohner war noch auf dem Friedhof und würde erst zum Leichenschmaus
zurückkehren. Von den Daheimgebliebenen war mir niemand begegnet. Niemand außer
mir befand sich im ersten Stock.
    Nach meinem Studium war ich durch Indien gereist. Auf dem Marktplatz von
Kalkutta hatte ich einen alten Mann beobachtet, der mit seinem Flötenspiel eine
Kobra aus einem Weidenkorb lockte. Während der Inder sich hin- und hergewiegt
hatte, war die Schlange seinen Bewegungen gefolgt, bis sie aufrecht wie

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