Jagablut
ein
Stock stand und nur noch wenige Zentimeter ihren Kopf vom Gesicht ihres Herrn
trennten. Ich hatte den beiden zugeschaut und dabei versucht zu verstehen, was
den Mann und seine Schlange verband. Plötzlich hatte sich die Schlange
zusammenfallen lassen und war wieder in ihrem Korb verschwunden. Dann hatte der
alte Mann mich bemerkt und mir zugelächelt. Er hatte mir bedeutet, in den Korb
zu greifen. Ich hatte keine Sekunde gezögert. Und nie wieder hatte ich so ein
Gefühl des Triumphes empfunden wie in den Sekunden, in denen die Kobra meinen
Arm emporgeglitten war, um sich dann um den Hals ihres Herrn zu legen. Während
der ganzen weiteren Reise hatte ich mich unverwundbar gefühlt. Und jetzt, Jahre
später, spürte ich wieder dieselbe unbezähmbare Abenteuerlust und dasselbe
Kribbeln im Nacken wie damals auf dem Marktplatz von Kalkutta. Mir war, als
hörte ich das Lachen des alten Inders.
Ich wollte einen letzten Erkundungsgang machen. Wenn ich heute nichts
fand, so schwor ich mir, würde ich den Fall für immer ruhen lassen.
Vinzenz Steiners Wohnung war zwar nicht mehr versiegelt, doch da ich
keinen Wohnungsschlüssel hatte, konnte ich nicht einfach durch die Wohnungstür
spazieren. Und ich hatte keine Ahnung, wie man ein modernes Zylinderschloss
knackte. Blieb der geheime Durchgang in der Abstellkammer, denn dort gab es nur
ein einfaches Kastenschloss. Rasch suchte ich ein wenig in meiner Arzttasche
herum und steckte ein paar Instrumente ein. Für den Fall, dass bei den
Stallners der Fernseher einmal nicht lief, huschte ich lautlos wie ein Dieb die
Holztreppe hinunter. Inzwischen kannte ich jede knarrende Stufe und vermied es,
daraufzutreten.
Vom schwarzen Wasser des Baches, der sich zwischen Inseln aus Eis und
Schnee schlängelte, stiegen hinter dem Gasthof weiße Rauchnebel auf. Der
Uferpfad lag den ganzen Tag im Schatten, und so waren die Kieselsteine, die ihn
bedeckten, zu einer unebenen Fläche gefroren. Weiche Schneeflocken schwebten
vom Himmel herab und verbargen den vereisten Weg unter einer zarten
Puderschicht. Um nicht zu fallen und den Abhang hinabzurutschen, tastete ich
mich an der Hausmauer entlang, bis ich die Holztür erreicht hatte. Dann fasste
ich nach der eisernen Klinke. Die Tür war nicht verschlossen.
In der Abstellkammer war es dunkel. Wie beim letzten Mal griff ich nach
dem Drehschalter. Sofort flammte die einzelne Glühbirne an der Decke auf. Im
Luftzug der offenen Tür schwang sie hin und her und verbreitete ein unruhiges
Licht. Das Durcheinander in der Kammer hatte sich nicht verändert, nur die
Staubschicht, die das Sammelsurium aus Werkzeugen und alter Kleidung bedeckte, schien
dicker geworden zu sein. Ein zartes Spinnennetz spannte sich zwischen den
Spankörben mit dem Feuerholz, das für Vinzenz Steiners Kachelofen nun nicht
mehr gebraucht wurde. Abgestoßene Reisigbesen, rostige Rechen und andere
Gerätschaften lehnten nach wie vor an der Wand. Das scharfe Blatt der
Schneeschaufel warf einen unruhigen Schatten auf den schwach erleuchteten
Boden. Hinter ihr lag der Raum im Dunkel.
Ich schloss die Tür und bahnte mir einen Weg zum Garderobenbrett am
anderen Ende der Abstellkammer. Die verblichenen Drillichrucksäcke schienen
unangetastet, ihre braunen Lederverschlüsse waren grau von Staub. Auch die
alten Lederriemen hingen nach wie vor steif an ihren Haken. Trotzdem hatte ich
das Gefühl, als würde etwas Entscheidendes fehlen. Ich versuchte, mich an das
letzte Mal zu erinnern, als ich mich in der Kammer umgeschaut hatte. Doch es
fiel mir nicht ein. Die vier Stufen zu der Geheimtür hoch waren staubbedeckt.
Verwischte Abdrücke von Schuhen führten deutlich sichtbar hinauf und wieder
hinunter. Jemand war vor noch nicht allzu langer Zeit hier gewesen und hatte
etwas vom Garderobenbrett genommen.
Nachdenklich stieg ich die Stufen hinauf. Dabei gab ich, genau wie beim
letzten Mal, zu wenig acht und blieb mit der Schuhspitze unter dem losen Brett
hängen. Doch diesmal konnte ich mich nicht mehr festhalten. Ich stolperte und
stürzte. Hart prallte mein Schienbein gegen die Treppenkante. Ich verfluchte
meine Unachtsamkeit, setzte mich auf die unterste Stufe und rieb mein
schmerzendes Bein.
Während ich wartete, dass das Pochen nachließ, ließ ich meinen Blick über
die Treppe wandern. Da stutzte ich. Dort, wo eine Stufe auf die andere traf,
befand sich jeweils ein schmaler Abstand. Nur das Brett, das mir gerade zum
zweiten Mal zum Verhängnis geworden war, lag deutlich höher
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