Jagablut
sehen
müssen, wie Kaml mich in mein Zimmer zurückzerrte. Warum war sie mir nicht zu
Hilfe geeilt oder hatte zumindest die anderen Hausbewohner alarmiert?
Der Teig der kalten Küchlein klebte zäh an den blassen Apfelscheiben.
Vielleicht tat ich Hansi unrecht und sie hatte gar nichts sehen können. Ich war
mir nicht mehr sicher und beschloss, sie einfach zu fragen. Rasch stellte ich
den Teller beiseite.
Ich wickelte das Handtuch von meinem Hals und warf es aufs Bett.
Angesichts der Tatsache, dass man erst vor ein paar Stunden versucht hatte,
mich zu ermorden, fühlte ich mich erstaunlich gut.
In Ermangelung eines Hausanzuges, zog ich meine Laufsachen an. Sollte mir
jemand am Gang begegnen, wollte ich nicht so aussehen, als hätte ich mich
gerade vom Sterbebett erhoben. Dann schlüpfte ich aus dem Zimmer.
NEUNZEHN
»Kennst du die Beerge, die Beerge
Tirools …«
Auf leisen Sohlen stieg ich die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Doch
um knarrende Holzdielen brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, denn mit jeder
Stufe wurde der Fernseher der Stallners lauter. Eine Volksmusiksendung dröhnte
durch den zweiten Stock. Die Gäste, die dort logierten, waren sicher von dieser
Beschallung nicht begeistert.
Oben angekommen, drehte ich mich um und schaute in den ersten Stock
zurück. Auch im gedämpften Licht der Wandlampen konnte ich meine Zimmertür gut
erkennen und sogar noch ein Stück in den Gang hineinsehen. Um ganz
sicherzugehen, stellte ich mich mit dem Rücken direkt vor Hansis Zimmer.
Plötzlich ging eine Tür auf. »Das Städtchen
Kuufstein, das kennst du woohl …«
Johannes Stallner holte offenbar die Kaffeejause. Nach der Begegnung mit
einem der Beteiligten in dem Mordkomplott stand mir nicht der Sinn. Schnell
drückte ich auf die Klinke, huschte in Hansis Zimmer und schloss die Tür.
Das Zimmer war leer. Es roch nach Lavendel und Tannenzweigen. Hinter dem
Fenster trieb der Sturm den Schnee vorbei. Das Licht der Laterne, die an diesem
trüben Nachmittag über dem Eingang des Jagawirts brannte, verwandelte die
weißen Flocken in wirbelnden Sternenstaub.
In der Hoffnung, Johannes Stallner die Treppe hinabsteigen zu hören und
unbemerkt wieder in mein Zimmer zu gelangen, lauschte ich an der Tür. Aber ich
hörte nur den Fernseher. Hansis Zimmer war sauber und aufgeräumt, fast
unpersönlich, und erinnerte an eine Klosterzelle. Eine dicke weiße Häkeldecke
lag über dem Bett und wirkte in dieser schlichten Umgebung luxuriös. Auf dem
Nachttisch stand die Holzkassette, in der Hansi alte Fotos verstaut hatte, als
ich in der Nacht vor dem Tod des alten Wenghofer hier gewesen war. Da bemerkte
ich einen neuen Wandschmuck.
Nicht auf Erden suche mich, von den Sternen grüß
ich dich. Genau zwischen christlichem
Kruzifix und heidnischer Edelweißfee hing in einem schmalen Holzrahmen das
fertig gestickte Totentuch. Umrankt von grünen Blättern und rosa Herzen prangte
in der Mitte das Schwarz-Weiß-Foto des Verstorbenen. Es war das Porträt eines
jungen Mannes. Die hohen Wangenknochen, die Augen wie die eines Luchses und das
lange blonde Haar gaben ihm etwas Unverwechselbares. Dieses Totenbild war nie für
Vinzenz Steiner gedacht gewesen.
Auf dem Gang jodelte nervenzerreißend eine Frau. Inzwischen musste
Stallner eigentlich aus der Küche zurück sein. Vielleicht hatte ich seine
Schritte wegen der lauten Musik nicht gehört. Ich fasste mich in Geduld und setzte
mich auf den Bettrand. Ein wenig gelangweilt griff ich nach der Kassette und
klappte den Deckel auf. Auf vergilbten Fotos mit gezackten Rändern schlängelte
sich ein Rosenkranz. Ich legte ihn auf den Nachttisch und nahm eine Handvoll
Bilder heraus. Der Jagawirt im Sommer, auf dem ungepflasterten Vorplatz eine
Isetta und eine Beiwagenmaschine. Ein Jagdhund sonnte sich hechelnd vor den
Eingangsstufen. Eine Volksschulklasse, sicher vor über fünfzig Jahren
aufgenommen. Die üblichen Familienfotos. Die Aufnahmen wären für das
Heimatmuseum von Interesse gewesen, mir verrieten sie nichts.
Auf dem Boden der Kassette lag ein einfach gefalteter Zettel. Mit einer
Ecke steckte er unter der Seitenwand der Kassette fest. Vielleicht ein
Liebesbrief von Simon an Johanna? Erst wollte ich ihn nicht herausnehmen, aber
dann siegte doch die Neugier. Ich schwor mir, nur einen ganz kurzen Blick
darauf zu werfen und den Brief, wenn mir der Inhalt doch zu persönlich
erschien, gleich wieder zurückzulegen. Neugier ist
der Katze Tod . Sagte man nicht so?
Ich klappte den
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