Jagablut
zerknitterten, vergilbten und an den Faltstellen schon
brüchigen Brief auf. Die Botschaft darin umfasste nur wenige Zeilen und war mit
dickem Bleistift geschrieben. Die Worte waren ungelenk und hastig hingeworfen,
als wäre der Schreiber in großer Eile gewesen. Ich musste den Zettel dicht vor
meine Augen halten, um die verwischten und mit Flecken übersäten zittrigen Buchstaben
lesen zu können.
»Heute, am 29. Oktober 1968, habe ich den
Munz Simon von seinen Schmerzen erlöst. So wahr mir Gott helfe. Kaml Georg.« Nach ein
wenig Abstand war noch dazugekritzelt: »Aus
freiwilligem Entschluss.«
Ich ließ das Blatt sinken. Dies musste das Geständnis sein, das Vinzenz
Steiner erpresst hatte, nachdem er den Mord befohlen hatte. Das Geständnis,
nach dem Kaml die ganze Zeit so verzweifelt gesucht hatte, dass er auch vor
einem weiteren Mord nicht zurückgeschreckt hätte. Hansi war die ganze Zeit im
Besitz dieses furchtbaren Dokuments gewesen. Wie war es in ihre Hände gelangt?
Sie wusste sicher nicht, was sie damit anrichtete, dass sie es hier in der
Kassette versteckt hielt. Ich schaute wieder auf den Zettel. »Aus freiwilligem Entschluss.« Was für ein Zynismus. Vinzenz
Steiner hatte wirklich an alles gedacht.
Auf dem Gang waren Schritte zu hören. Endlich, das musste Johannes
Stallner sein. Die Schritte kamen auf Hansis Zimmer zu. Ich hielt den Atem an.
Die Tür öffnete sich.
»Emma …« Hansi stand im Türrahmen.
Ich fühlte mich wie ein beim Schummeln ertapptes Schulmädchen. Schnell
ließ ich den Brief hinter meinem Rücken verschwinden.
Hansi schloss behutsam die Tür hinter sich und kam näher. Ihre weiße
Bluse und der graue Faltenrock saßen wie immer tadellos. Mitten im Raum blieb
sie stehen. »Na? Gefunden, wonach S’ gesucht haben?«
Mein erster Impuls war, eine Entschuldigung zu murmeln und aus dem Zimmer
zu laufen, aber Hansi stand zwischen mir und der Tür. Wie zum Hohn verstummte
jetzt der Fernsehlärm, wegen dem ich sie nicht hatte kommen hören. Nur unser
Atem war noch in dem kargen Raum zu vernehmen und das Heulen des Schneesturms.
Hansi wandte ihr Gesicht dem Fenster zu. Draußen tanzten die Flocken. Ein
Lächeln huschte über ihr Gesicht. Die Schneekönigin und ihr Element.
»Ich hab gewusst, dass Sie mir Schwierigkeiten machen werden«, sagte sie
im Plauderton. »Gleich wie ich Sie das erste Mal getroffen hab.«
Ich fand meine Stimme wieder. »Ach, wirklich?« Ich sah sie wieder vor mir
stehen, die nette ältere Dame mit dem faltenlosen Gesicht und dem adretten
Kurzhaarschnitt. Eine schlichte Version der englischen Lady vom Land. Ein wenig
altmodisch, praktisch veranlagt und mit vernünftigen Schuhen. »Warum denn?«
Sie lächelte. »Weil Sie so unverschämt sind.«
Das hatte noch niemand zu mir gesagt. Und diese Worte gerade aus dem Mund
einer Frau zu hören, die ein Mordgeständnis gefunden und unterschlagen hatte,
ärgerte mich besonders. Im Grunde hatte Hansi durch ihre Unterschlagung die
ganzen Ereignisse im Jagawirt erst in Gang gebracht. Aber wahrscheinlich war
sie nicht einmal in der Lage, die Tragweite ihres Tuns zu begreifen.
»Wissen Sie überhaupt, was das hier ist?« Ich hielt das vergilbte Papier
hoch.
»Natürlich.« Es klang so teilnahmslos, als würde sie das alles nicht
betreffen.
»Durch Ihre Dummheit sind zwei Menschen gestorben«, fuhr ich fort. »Und
dass ich noch am Leben bin, dafür danke ich meinem Schicksal.« Und Viktor.
Hansi schien von meinem Ausbruch nicht überrascht. Irgendetwas stimmte
nicht. Ihre Augen hatten sich verdunkelt. Diesmal erinnerten sie mich nicht an
die ihres Bruders. Sie presste die Lippen aufeinander.
»Wir wollten heiraten«, flüsterte sie und fasste nach dem schweren
Medaillon an ihrem Hals. »Der Simon und ich.« Sie klappte den Anhänger auf und
lächelte, während sie das Porträt darin betrachtete. »So ein fescher Mann, der
Simon. Im Mai sollte Hochzeit sein.« Sie strich mit dem Zeigefinger über das
Bild. »Aber dann hat er die weiße Gams geschossen …« Die Laterne über dem
Eingang schwang hin und her und warf wilde Schatten an die Decke. »Und im
Oktober haben ‘s ihn ermordet.«
Also wusste Hansi doch, welches Beweisstück ihr da in die Hände gefallen
war. Wahrscheinlich hatte sie durch das Geständnis erst die Todesumstände ihres
Geliebten erfahren. Doch die verwischte Bleistiftschrift enthüllte nicht die
ganze Tragödie. Es widerstrebte mir, Hansi auch noch die guten Erinnerungen an
den Bruder zu
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