Jagablut
trau
mich nicht, in meinem Alter . Wie von
Sinnen war Georg Kaml durch den Gasthof gelaufen und hatte Türen und Fenster
vor einem unsichtbaren Mörder verschlossen, den kein Riegel draußen halten
konnte. Dabei hatte er die ganze Zeit mit seinem Feind unter einem Dach gelebt.
»Hansi?« Sie drehte sich zu mir um. »Sie haben gesehen, dass Kaml mich in
jener Nacht zusammengeschlagen hat, oder?«
Hansi senkte ein wenig das Kinn und warf mir von unten einen Blick zu.
Jetzt war sie eine alte Dame, die man beim Flunkern erwischt hatte. Ich nahm es
als Eingeständnis.
»Deswegen waren Sie auch so überrascht, als er die Polizei rufen wollte.
Warum haben Sie mir nicht geholfen?«
Sie rührte sich nicht.
»Hansi?«
Ihre hellen Augen begannen zu flackern. »Weil er dich erwischen sollte.«
Jetzt war ich sicher, dass sie verrückt war. »Mich?«
Hansi lachte leise. »Dann hätt doch jeder gewusst, dass er ein Mörder
is’.« Sie hob die Brauen und reckte den Kopf vor. »Dann wär er lebenslänglich
eingesperrt worden. Is’ ja egal wofür, oder?«
Dann wäre Georg Kaml eben für einen anderen Mord ins Gefängnis gegangen,
hieß das. Die nette Lady vom Land, ein wenig altmodisch und praktisch
veranlagt, hätte also für ihre Rache auch meinen Tod in Kauf genommen. Ja,
praktisch veranlagt war Hansi in der Tat. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte
ich so etwas wie Hass in mir aufkeimen.
Ich stand auf. Hansi ließ mich nicht aus den Augen. Langsam ging ich auf
sie zu. Dicht vor ihr blieb ich stehen. Ich kämpfte gegen den Impuls, ihr die
Finger um den Hals zu legen und zuzudrücken. Das Silber ihrer Augen glänzte im
schwankenden Schein der Laterne. Plötzlich hob sie die Hände und stieß mich
kraftvoll zurück. Im nächsten Augenblick war sie zur Tür hinaus.
Ich stolperte zurück und fiel aufs Bett. Die Tür knallte ins Schloss. Ich
brauchte ein paar Sekunden, bis ich mich von dem Schreck erholt hatte, dann
rappelte ich mich auf und rannte hinterher. Hansi war bereits die Treppe
hinuntergelaufen. Sie war klein, aber drahtig, und ihre langen Wanderungen
hatten ihr Ausdauer und Kraft verliehen. Als ich in die Halle kam, stand sie
bereits in der halb geöffneten Eingangstür und schaute zu mir zurück.
Schneeflocken wirbelten um sie herum. Sie schien auf mich zu warten. Auf ihrem
Gesicht lag ein kindliches Lächeln, als spielten wir nur Fangen.
»Hansi! Bleiben Sie stehen! Nicht in die Kälte …«
Da war sie schon verschwunden und die Eingangstür hinter ihr
zugeschnappt. Ich rannte so schnell ich konnte durch die Halle. Einen irren
Moment war ich dankbar dafür, dass ich meine Laufschuhe trug. Dann hatte ich
die Tür erreicht und folgte Hansi nach draußen.
Vor dem Haus blies ein schneidender Wind. Im flackernden Licht der
Laterne konnte ich Hansis Spuren im lockeren Neuschnee erkennen. Sie hatte sich
nach rechts gewandt, dem Pfad zu, der hinter den Jagawirt führte und dann über
die Brücke in den Wald hinauf. Das war Wahnsinn. Sie würde vor Kälte sterben.
Einen Moment zögerte ich, aber der heftige Schneefall verwischte schon die
Konturen ihrer Fußabdrücke. Mein Handy lag in meinem Zimmer. Bis ich es geholt
und Hilfe gerufen hatte, wären alle Spuren im Schnee verschwunden. Wetti musste
ich erst suchen, und Viktor war sicher in die Praxis gefahren, um den
Lawinenhund zu verarzten.
Aber ich selbst trug nur dünne Laufsachen, und niemand wusste, wo ich
war. Wenn ich Hansi folgte, riskierte ich mein Leben. Um das einer Mörderin zu
retten. Ich schaute zu der Wand aus wirbelnden Schneeflocken hinauf, hinter der
sich der Bergwald verbarg. Und Hansi. Mehr als eine halbe Stunde hatten wir
beide nicht. Ich rannte los.
Eine Weile waren Hansis Spuren noch zu sehen. Sie schien sich auf dem
Pfad zu halten, der unter der geschlossenen Schneedecke liegen musste. Ich lief
auf die Brücke zu. Der lockere Schnee stäubte vor meinen Schuhen auf und stach
wie mit Eisspitzen in meine bloßen Knöchel. Auf der Brücke hatte der Wind den
Schnee zu einer harschen Decke gefroren. Ich klammerte mich an das vereiste
Geländer und hangelte mich vorwärts, um nicht in die schwarzen Strudel des
Flusses zu rutschen.
Als ich am anderen Ufer ankam, waren Hansis Fußabdrücke verschwunden. Ich
hatte zu viel Zeit verloren. Unschlüssig blieb ich stehen. War Hansi kopflos in
den Wald gelaufen, oder hatte sie ein Ziel vor Augen? Ich versuchte, mich zu
orientieren, aber der Nachmittag ging bereits in den Abend über. Bald würde
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