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Jagablut

Jagablut

Titel: Jagablut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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geschoben.
»Hast du diesen Brief auch gelesen?«
    »Den Brief gibt es nicht mehr.« Viktor stand auf und kam zu mir herüber.
Er inspizierte den Teller mit den Apfelküchlein. Dann nahm er die Gabel und
stach mit mehr Kraft, als mir dazu nötig schien, ein Stück von dem
Schmalzgebäck ab. »Der Wenghofer hat sich offiziell auch nicht umgebracht.«
    »Was?«
    »Hat nur seinen Bergstutzen gereinigt.« Er drehte die Gabelzinken mit dem
Kuchenstück vor seinen Augen. »Und da ist es eben passiert. Hansis Kuchen sind
einmalig.« Er zog das Gebäck durch die Preiselbeeren und steckte es in den
Mund. Sein Haar war inzwischen getrocknet und glänzte golden. »So was kommt
immer wieder vor, leider.«
    Machte er Witze? » Ein Unfall ? Ich höre
wohl nicht recht?«
    »Doch.« Viktor legte die Gabel mit einem Klirren zurück. »Das Gewehr war
unterladen. Es war noch eine Patrone im Lauf.«
    »Ach … und wer behauptet das?«
    »Alle.« Er grinste. »Walter … die Polizei.«
    »Die Polizei?« Viktor nickte, wich aber meinem Blick aus.
    »Und unser Herr Pfarrer ist derselben Meinung.« Natürlich, schließlich
hatte er den Abschiedsbrief des Selbstmörders einfach verschwinden lassen.
Deshalb also das kirchliche Begräbnis. Das Murmeltierschmalz unter dem Handtuch
juckte. Ich drückte vorsichtig gegen den Frotteestoff. Mein Hals tat immer noch
weh.
    »Der vor allen anderen.« Viktor nahm seine Daunenjacke von der Armlehne
des Ohrensessels und schlüpfte hinein. »So, und jetzt muss ich los. Die
Bergrettung wird mit dem Lawinenhund sicher bald im Tal sein.«
    »Eine Lawine? Gab’s Verletzte? Soll ich helfen?« Ich fasste noch einmal
nach meinem Hals. »Mir geht’s schon viel besser.«
    »Vielleicht brauchen wir dich später.« Sein Blick war meiner Hand
gefolgt. Er musterte das Handtuch. »Was hast du denn da für einen Verband?«
    Es war mir ein wenig peinlich, aber ich sagte: »Das ist
Murmeltierschmalz.« Damit er nicht dachte, dieser Hokuspokus wäre meine eigene
Behandlungsmethode, setzte ich hinzu: »Eine Aufmerksamkeit vom Herrn Pfarrer.«
Wenn er mich auslachen wollte, dann sollte er doch.
    Doch Viktor lachte nicht. »Gute Idee, das ist abschwellend und
entzündungshemmend. Hast sicher auch eine Muskelzerrung.«
    Ich starrte ihn an. »Wie soll das denn wirken?«
    »Deine Salbe besteht aus Murmeltieröl.« Jetzt spielte doch ein Lächeln um
seinen Mund. »Da sind Corticosteroide drin.«
    »Was? Cortison?« So viel zum Placeboeffekt alter Hausmittel.
    »Ja, klar. Also, ich muss jetzt los.« Viktor stieß seine Hände in die
Jackentaschen. »Zwei vermisste Snowboardfahrer.« Seine Miene war grimmig. »Sind
heute Morgen trotz Wetterwarnung hinauf. Wahrscheinlich haben sie im
Schneesturm die Orientierung verloren und sind im freien Gelände abgefahren.
Der letzte Hubschrauber, der noch einen Skitourengeher bergen konnte, hat ihre
Spuren gesehen. Sie enden direkt in einem Schneebrett.« Er kniff die Augen zusammen
und sah zum Fenster hinüber. »In zwei Stunden ist es dunkel, und es schneit wie
verrückt. Und dazu der Sturm. Wer weiß, wann wieder ein Hubschrauber starten
kann.«
    Viktor winkte mir zum Abschied, dann verließ er mein Zimmer. Ich vergrub
mich tiefer in mein Bett und dachte an die beiden Vermissten am Berg. Man
brauchte kein Arzt zu sein, um zu wissen, dass ihre Überlebenschancen bei
diesem Wetter gleich null waren.
    Dann wanderten meine Gedanken weiter zu Georg Kaml, der sich einen Mord
hatte befehlen lassen. Der alte Mooslechner hatte Simon Munz als Selbstmörder
ausgegeben, um die Täter und ihre Familien zu schützen. Und um Simons Eltern zu
besänftigen, hatte der Pfarrer dafür zugelassen, dass der junge Mann auf dem
Kirchhof begraben wurde. Eine Alpbacher Lösung zur Wahrung des Dorffriedens. Das Gute wiegt das Böse auf, der Himmel wird mein Lohn. Hier half
wirklich nur das Vertrauen auf höhere Gerechtigkeit.
    Dieser Dorffriede hatte immerhin vier Jahrzehnte gehalten. Bis Kaml
angefangen hatte, nach seinem Geständnis zu suchen. Und ich in die mörderische
Gesellschaft im Jagawirt geraten war und dabei fast umgebracht worden wäre.
    Ich nahm mir den Teller mit Hansis Kuchen. Sie waren nicht mehr heiß,
schmeckten aber immer noch tröstlich nach Vanille und mürben Äpfeln. Während
ich aß, fiel mir wieder ein, wie Hansi, eingehüllt in ihren weißen
Morgenmantel, nach meinem Überfall als Letzte aufgetaucht war. Wenn sie meine
Schreie gehört und auf den Gang hinausgelaufen war, hätte sie doch

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