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Jagablut

Jagablut

Titel: Jagablut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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ich
nichts mehr sehen. Und ich kannte nur den Pfad, der den Berg hinaufführte. Wenn
ich vom Weg abkam, war nicht nur Hansi verloren.
    »Hansi!« Nur die heulende, körperlose Stimme des Windes schien mir von
überallher zu antworten. »Hansi!«
    Hansi hatte ihr ganzes Leben hier verbracht und war mit dem Gelände
vertraut. Aber in ihrem Alter und in ihrer dünnen Kleidung würde ihr das nichts
nützen.
    Ich trabte über die verschneite Wiese und dann den stetig ansteigenden
Pfad hinauf. Tannen, deren Zweige sich unter der Schneelast bogen, begrenzten ihn
zu beiden Seiten und zeigten mir die Richtung an. Solange ich lief, spürte ich
die Kälte kaum. Wenn ich mein Tempo hielt, würde ich Hansi irgendwann einholen.
Wenn sie denn den Bergpfad genommen hatte. Hoffentlich war es dann nicht zu
spät. Für uns beide. Aber durch den tiefen, unter meinen Sohlen nachgebenden
Schnee zu pflügen, war etwas anderes als ein flotter Waldlauf. Die körperliche
Anstrengung ließ meine Beine immer schwerer werden, und mit der Zeit ging mir
die Luft aus. Als ich eine Lichtung erreichte, musste ich innehalten, um zu verschnaufen.
    Ich war vom Schnee eingeschlossen. Um mich herum türmten sich meterhohe
Wechten und begruben Weg und Wiesen unter sich. Der Wind heulte in den Wipfeln
der Tannen, aber hier unten war es gespenstisch still. Der Schneefall hatte
nachgelassen, und ich konnte meine Umgebung jetzt gut erkennen.
    »Hansi?« Der Wald blieb stumm.
    Auf einmal hörte ich ein Rascheln. Etwas versteckte sich hinter einer
riesigen Schneewehe, die sich vor dem stacheligen Skelett einer toten Tanne
auftürmte. Dann raschelte es wieder. Einmal, zweimal, und wieder war alles
still.
    »Hansi?«
    Ein gurrendes Lachen war die Antwort. Gänsehaut breitete sich über meinen
Körper aus. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass Hansi nicht nur verrückt,
sondern gefährlich war. Sie hatte ihren Bruder mit eigenen Händen erschlagen
und hätte auch mein Leben geopfert, nur um ihre Rache zu befriedigen. Ein
überraschender Schubs genügte, um mich über eine Felswand in die Tiefe zu
befördern. Meine Leiche würde für Monate, oder sogar für immer, zerschmettert
am Grunde einer Schlucht liegen.
    Eine dicke Schneeschicht rutschte von einem Tannenzweig und schlug am
Boden auf. Für Sekunden hing ein Gespinst aus Eiskristallen in der Luft. Der
Wind wehte mir Schneestaub ins Gesicht.
    Es würde keine Spur von einem Gewaltverbrechen geben. Nur eine
leichtsinnige Sportlerin mehr, die, vom Wintereinbruch überrascht, vom Weg
abgekommen war. Es wäre der perfekte Mord.
    Wieder kam dieses zarte Lachen von der toten Tanne.
    Ich wischte mir den nassen Schnee aus dem Gesicht. »Kommen Sie raus,
Hansi.« Ich stapfte auf die Tanne zu. »Ich weiß, dass Sie da sind.«
    Auf einmal raschelte und rauschte es, und eine weiße Eule stieg hinter
der Schneewehe auf, schwang sich in die Luft und ließ sich auf einem kahlen Ast
der Tanne nieder. Schnee stäubte wie ein weißer Schleier herab, wehte über mich
hin und legte sich stechend kalt in meinen Halsausschnitt. Die Eule drehte
ihren Kopf von einer Schulter zur anderen und wieder zurück. Dann stieß sie
einen Schrei aus und flatterte mit ihren weißen, schwarz gesprenkelten Schwingen.
Ich hatte mich von einer jagenden Schleiereule zum Narren halten lassen. Der
Vogel fixierte mich mit seinen runden Augen unter der spitzen
Gesichtszeichnung, die an ein Witwenhäubchen erinnerte. Nervös trat er von
einem Bein auf das andere. Sein gekrümmter Schnabel war leicht geöffnet. Das
Tier schien zur Verteidigung bereit.
    »Niemand will dich ausstopfen«, sagte ich, mehr um mich als die Eule zu
beruhigen. »Alles in Ordnung.«
    Geschmolzener Schnee lief in Rinnsalen über meine Haut. Ich bibberte vor
Kälte, drehte mich aber um und setzte meinen Weg fort. Kaum hatte ich ein paar
Schritte gemacht, als mich ein Hieb in die Kniekehlen traf. Ich war so
überrascht, dass ich vorwärts stolperte und dann lang in den lockeren Schnee
fiel. Ich schlug wild um mich. Feiner Schneestaub drang in meine Nase und
verstopfte meine Atemwege. Hustend und würgend wand ich mich am Boden, da traf
mich ein harter Schlag zwischen den Schulterblättern. Ich schnappte nach Luft.
    Es dauerte einen Moment, bis ich wieder klar sehen konnte. Hansi beugte
sich über mich. Mit beiden Händen hielt sie einen dicken Ast wie eine Keule.
Ihre Haare standen wie Eiszapfen um ihr kalkweißes Gesicht, und ihre Augen
schimmerten wie erstarrte Teiche. Ihre

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