Jagablut
sich die Dämmerung herab. Mechanisch setzte ich einen
Fuß vor den anderen.
Irgendwann schaute mich der Mann von der Seite an. »Geht’s noch?« Er
streckte den Arm aus. »Schauen S’, da unten sind schon die Lichter.« Sein
Atem gefror in Wölkchen vor seinem Mund.
Ich nickte.
Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Der Himmel war sternenklar, und
eine eisige Nacht brach an. Zu unseren Füßen lag Alpbach unter einer bläulichen
Schneedecke. Das Licht, das aus den Fenstern strömte, wob einen goldenen
Schimmer um die Häuser. Über der Kirchturmspitze leuchtete der Wintermond.
Selten hatte ich eine schönere Landschaft gesehen als an diesem Abend.
Ich dachte an die Menschen dort unten, verbarrikadiert in ihren Häusern
und von ihren Nachbarn nicht nur durch hohe Schneemauern getrennt. Die
Unschuldigen und die Schuldigen, die Gesunden und die Kranken. Sie würden in
meine Praxis kommen, mir ihre Sorgen anvertrauen und ihre Geheimnisse für sich
behalten. Und mir selbst gebrannten Schnaps mitbringen und Hausmittel
empfehlen. Ein warmes Gefühl der Dankbarkeit durchströmte mich. Ich war am
Leben – und zu Hause.
»Jetzt sind S’ gleich daheim«, sagte der Mann und drückte meinen
Arm. »Da vorn is’ der Jagawirt.«
»Ich will in die Alte Post.« Das hatte mir der Pfarrer bei meiner Ankunft
geraten. Ich hätte auf ihn hören sollen.
»In die Post?« Der Mann warf mir einen Seitenblick zu. »Also, ob die in
der Hochsaison ein Zimmer frei haben?«
»Für die Ärztin von Alpbach gibt’s sicher eins.«
Ich drehte mich noch einmal um. Schwarzer Nebel verhüllte jetzt den Berg.
Irgendwo dort oben war Johanna Steiner. Die letzten Stunden kamen mir schon
unwirklich vor. So unwirklich wie die Tatsache, dass Hansi fast ein halbes
Jahrhundert unbeirrt und voller Geduld auf die Erfüllung ihrer Rache gewartet
hatte.
Aber Geduld, das wusste ich jetzt, ist die Tugend des Jägers und des
Mörders. Ohne seine Deckung zu verlassen, darf er das anvisierte Ziel nie aus
den Augen verlieren. Im rechten Moment muss er ohne Zeugen töten. Manchmal
dauert die Pirsch nur Stunden, manchmal mehrere Wochen. Aber zuweilen dauert
sie auch ein ganzes Leben lang.
EPILOG
Wie eine Gebirgskette lag der aufgetürmte Schnee vor dem
Gasthof Zur Alten Post. Die Morgensonne vergoldete seine Kuppen und legte blaue
Schatten in die Täler. Schwere Geländewagen mit ausländischen Kennzeichen und
Dachträgern schoben sich im Schritttempo über den Platz vor dem Gasthof.
Wintersportler in bunten Anoraks standen, umgeben von einem Wald aus Skiern und
Stöcken, an der Haltestelle und warteten auf den Bus zur Talstation. Der
Kirchturm strebte in einen wolkenlosen blauen Himmel.
Ich stand vor dem Gasthof und genoss die Sonne, die Luft und den Anblick
von Leben. Seit einer Woche wohnte ich nun schon hier und wurde von den
Wirtsleuten umsorgt. Mein linker Arm steckte in Gips, und das für noch
mindestens fünf Wochen. Es war ein glatter Bruch, der ohne Komplikationen
heilen würde. Hoffentlich konnte ich das eines Tages auch von meinen Gefühlen
sagen.
Ich schaute zu dem Bergmassiv hinauf, an dessen Fuß der Jagawirt lag. Der
Sturm hatte die Grate freigefegt, und zwischen den grauen Felsen leuchteten
Schneefelder. Es war die Welt der Adler, Gämsen und Hirsche. Der Mensch war zu
schwach, um dort oben allein zu überleben. Die beiden vermissten Snowboarder
hatte man mit Erfrierungen geborgen. Von Hansi fehlte jede Spur. Vielleicht
würde die Schneeschmelze im Frühjahr ihre Leiche ans Tageslicht bringen. Hansi
hatte ihr Leben an eine Rache verschwendet, die sie selbst zur Mörderin werden
ließ und ihr den Geliebten doch nicht zurückgeben konnte. Auch wenn sie am Ende
versucht hatte, mich zu töten, konnte ich keinen Hass empfinden.
Etwas streifte meine Knie. Ein grauweißer Husky schnüffelte vor meinen
Stiefelspitzen auf dem Boden. Als ich einen Schritt zurücktrat, hob er den Kopf
und blickte mich aus silbernen Wolfsaugen an. Auf seinem dicken Pelz glitzerten
Eiskristalle. Da drehte er sich um und verschwand zwischen den Schneehaufen.
Mein Landrover stand, unter einer Schneehaube begraben, auf dem
Parkplatz. Autofahren konnte ich mit dem Arm noch nicht, aber von der Alten
Post konnte ich die Ordination zu Fuß erreichen. Am Freitag würde ich mit dem
Zug nach Wien fahren. Ich musste über die Ereignisse der letzten Wochen
nachdenken. Und mir darüber klar werden, ob meine Zukunft wirklich in Alpbach
lag. Mein Vater hatte mir die
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