Jagd auf Jesse James
Ganoven aus Maryville zutrauen.«
»Welche Haarfarbe hatte sie?«, fragte Lassiter nach einer Weile.
»Dunkel, würde ich meinen.«
»Also brünett.«
»Oder mittelblond. Es war nicht mehr so genau auszumachen, verstehen Sie?«
»Ich denke schon«, meinte Lassiter. »Ich nehme mal an, man hat sich nicht die Mühe gemacht, die Leiche zu waschen und für die Bestattung vorzubereiten.«
»Sie sind gut – wer sollte diesen Aufwand bezahlen? Die Tote hatte nicht einen lumpigen Cent bei sich.«
Lassiter nickte grimmig. »Die Kleider, die sie trug: Ist Ihnen daran etwas aufgefallen? Vielleicht ein Schmuckstück oder eine andere Besonderheit.«
Pratt furchte die Stirn. »Lassen Sie mich mal überlegen. Was ist mir aufgefallen? Hm«, plötzlich hellte sich seine Miene auf. »Sie trug diese rote, spitzenbesetzte Unterwäsche, wie sie auch manche Tänzerinnen anhaben, die sich in bestimmten Etablissements vor den Gästen entblättern.«
Lassiter biss die Zähne zusammen. Don Miles’ Tochter war Tänzerin. All devils! Sieht fast so aus, als wäre ich auf der richtigen Fährte …
Seine Stimmung sank in die Nähe des Nullpunktes. »Zeigen Sie mir ihr Grab, Marshal?«
»Okay, wie Sie wollen.«
Sie gingen ein Stück die Straße hinunter, bis sie zu einem Trampelpfad kamen, der, an einer Pferdekoppel vorbei, in Richtung eines baumlosen Hügels führte, der mit Holzkreuzen und Findlingen bedeckt war. Linker Hand befand sich ein Kirchengebäude aus Holz. Neben dem Glockenturm war ein Fuhrwerk mit zwei Pferden abgestellt.
Der Marshal führte Lassiter einen schmalen Weg entlang, der von bescheidenen Grabstellen gesäumt wurde. Vor einem kleinen Erdhügel am Rand des Totenackers blieb er stehen.
Auf der Grabstelle gab es weder ein Kreuz noch einen Gedenkstein. Nicht einmal eine verdorrte Blume war zu sehen. Der Anblick der schmucklosen Grabstelle verursachte einen dumpfen Druck in Lassiters Magengegend.
Egal, ob es Jona Miles oder eine andere junge Frau war, die hier begraben lag, die von allen Menschen vergessene Tote tat Lassiter leid. Während er darüber nachsann, ob er ein paar Dollars lockermachen sollte, um die Grabstelle etwas ausschmücken zu lassen, hörte er hinter sich eine Tür zuschlagen.
Er wandte sich um und sah einen Mann, der ein Stativ trug, aus der Kirche kommen.
»Heureka!«, rief der Marshal aus.
Lassiter sah ihn verwundert an.
Pratt zeigte zur Kirche. »Das ist Lee Flannery, der Fotograf. Ein komischer Kauz. Er fotografiert alles, was ihm in die Quere kommt. Ich will verdammt sein, wenn er nicht auch eine Aufnahme von der Toten gemacht hat.«
Lassiter rannte los.
Der Fotograf kletterte gerade auf den Kutschbock.
»Einen Moment, Mister!«, rief Lassiter.
Lee Flannery hielt inne und blickte dem heranpreschenden Fremden neugierig entgegen.
Im Nu stand Lassiter vor ihm. »Es geht um das unbekannte Mädchen, das neulich beerdigt wurde. Haben Sie die Leiche fotografiert?«
»Die Tote, die hinter dem Saloon gefunden wurde?«
Lassiter nickte. »Ja, die meine ich. Gibt es eine Fotografie von ihr?«
Flannery griff nach den Zügeln. »Sie werden lachen: Ja, es gibt eine Aufnahme von ihr, sogar zwei. Sind Sie sicher, dass Sie die Bilder sehen möchten? Ich meine, es gibt da sehenswertere Motive in meiner Galerie.«
»Mag sein. Mich interessiert aber nur dieses Bild. Haben Sie es zufällig bei sich?«
Flannery schüttelte den Kopf. »Bedaure, das Foto liegt in meinem Atelier.« Nach kurzem Überlegen rückte er ein Stück zur Seite und wies einladend auf den Beifahrersitz. »Kommen Sie, Mister, werfen wir einen Blick in das Gesicht des Todes!«
Lassiter biss die Zähne zusammen und sandte einen flehenden Blick in den strahlend blauen Mittagshimmel.
Dann kletterte er zu dem Fotografen auf den Kutschbock.
***
Flannerys Haus befand sich in einer Quergasse der Main Street, gleich neben der Schmiedewerkstatt, aus der laute Hammerschläge wummerten.
Sofort führte der Fotograf Lassiter in sein Atelier.
Der Raum war klein und dunkel. Überall hingen Leinen herum, an denen mit Klammern Fotografien aller Größen zum Trocknen aufgehängt waren. Es gab mehrere Tische, auf denen Dutzende Bilder verstreut lagen. Porträts von Männern und Frauen, die Lassiter nicht kannte. Idyllische Stillleben und Aufsehen erregende Ansichten des Missouri.
Der unangenehme Geruch von Chemikalien stieg Lassiter in die Nase. Der Druck in seinem Magen war stärker geworden. In einem fort musste er daran denken, dass die
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