Jagdhunde (German Edition)
Audun Vetti waren mit einem Mal ganz fern. Stattdessen kehrten Erinnerungen zurück: an Zugfahrten, Schiffsreisen, Goldgräberstädte, Holzrutschen, die Verkehrsschule und was es sonst noch in Legoland gab. Und die ganze Zeit lag Ingrids ansteckendes Lachen im Hintergrund. Die alten Erinnerungen machten ihn wehmütig, aber auch glücklich, und er war enttäuscht, als der Film endete.
Kurz danach ging die Haustür auf. Line kam mit einer vollgepackten Tüte aus dem Taxfree-Laden herein. Sie sah erschöpft aus. Ihr blondes Haar war zerzaust, die Kleidung wirkte schmutzig und sie hatte Ringe unter den Augen. Aber dennoch schien sie zufrieden zu sein.
Sie begrüßte die beiden Männer mit einer schnellen Umarmung. Wisting nahm die Plastiktüte und stellte sie auf den Küchentisch. Als er wieder ins Wohnzimmer kam, war Line bereits dabei, die Kassette in die Kamera einzulegen.
»Die ist bis ganz an den Anfang zurückgespult«, sagte sie und schloss die Abdeckung des Kassettenfachs.
Ihr Großvater übernahm und drückte auf Play.
Erst war nur ein Flimmern auf dem Bildschirm zu sehen. Graue, schwarze und weiße Körner wirbelten durcheinander, bevor der eigentliche Film begann und Teile einer Küche erkennbar wurden. Ein Herd und ein Spülbecken. Dann wurde das Bild plötzlich unscharf. Die Farben verschwanden und der Schirm wurde schwarz, bis weitere Teile der Kücheneinrichtung auftauchten. Ein Fenster, vor dem weiße Gardinen mit gehäkeltem Saum hingen. Das starke Gegenlicht machte die Sicht nach draußen unmöglich.
Line ließ sich auf die Kante eines Stuhls nieder.
Das Fernsehbild wurde wieder schwarz. Der Film wurde erneut körnig, dann erschienen Bilder eines leeren Raums mit weißen Steinwänden und grauem Fußboden. Der Blickwinkel der Kamera schwankte von oben nach unten, so als hätte jemand die Kamera mit ausgestreckten Händen über den Kopf gehalten und hin- und herbewegt, um möglichst alle Winkel des Raums zu erfassen. Die Ausleuchtung war gut und plötzlich war in der Bildmitte ein Schatten erkennbar, so als bewege sich jemand außerhalb des Kamerabildes.
Dann gab es einen Schnitt. Die Kamera war in einem leicht veränderten Winkel angebracht, filmte aber noch immer aus einer erhöhten Position. Jetzt stand ein Mensch inmitten des Raums. Eine nackte Frau. Sie hatte den Kopf gesenkt, hob ihn dann aber langsam und blickte direkt in die Kamera. An ihrem Hals war ein Lederband befestigt.
Wisting wich einen Schritt zurück und stützte sich an der Tischkante ab.
Die Frau war Cecilia Linde.
Der Anblick traf ihn bis ins Mark.
Sie stand einfach da. Ihr Blick verriet Furcht, Pein und Schmerzen. Auf ihren Wangen glänzten die Überreste getrockneter Tränen. Sie blinzelte und schloss für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war die Mischung aus Angst und Verzweiflung noch deutlicher zu sehen.
Ihre Lippen bewegten sich. Erst lautlos, dann hörte man sie flüstern: »Bitte …«
Ihre Unterlippe begann zu zittern. Die Augen glänzten, und neue Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Bitte«, flehte sie den Mann hinter der Kamera erneut an.
Ihre Scham war verflogen. Sie stand mit hängenden Armen da, ohne länger den Versuch zu machen, ihre Nacktheit zu verdecken.
»Was auch immer«, stöhnte sie. »Ich mache was auch immer. Lassen Sie mich nur hier raus.«
»Spul noch mal zurück«, bat Line.
»Was?«
»Spul noch mal zum Anfang zurück.«
Lines Großvater tat wie geheißen. Das körnige Bild tauchte wieder auf, dann begann der Film von vorn.
»Stopp!«, rief Line.
Das Bild gefror in einer Position, in der die Kamera schräg stand. Line schüttelte den Kopf und inspizierte das Standbild. Eine blaue Wand, Arbeitsplatte mit benutzten Tellern und Gläsern, Oberschränke in derselben Farbe wie die Wände. Ein weiß emaillierter Herd mit drei Kochplatten. Doppelspüle aus rostfreiem Stahl.
»Ich habe diese Küche schon mal gesehen«, sagte Line. »Ich weiß, wo das ist. Ich weiß, wo Cecilia Linde gefangen gehalten wurde.« Sie hob die Hand und zeigte auf den Bildschirm. »Das ist der Hof von Jonas Ravneberg.«
76
Line nahm ihre Tasche vom Beifahrersitz, um Wisting Platz zu machen. Erst vor Kurzem hatte sie Jonas Ravnebergs kleinem Hof bei Manvik einen Besuch abgestattet, und dort fuhren sie jetzt hin.
Wisting saß schweigend neben seiner Tochter und biss die Zähne zusammen. Jonas Ravneberg war ihm während der Ermittlungen vor siebzehn Jahren entkommen. Cecilia hatte zwölf Tage
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