Jagdhunde (German Edition)
wurde. Wisting war seit einunddreißig Jahren Polizist. Das hatte ihm nicht nur Einblick in alle erdenklichen Formen der Brutalität und Verdorbenheit gewährt, sondern auch zahlreiche schlaflose Nächte beschert. Er wünschte sich, dass seine Tochter von so etwas verschont bliebe.
Wisting überblätterte die Kommentarspalten und durchstöberte die aktuellen Meldungen. Er rechnte nicht damit, einen Artikel von Line zu finden. Erst vor dem Wochenende hatte er mit ihr gesprochen und wusste daher, dass sie ein paar Tage freihatte.
Im Laufe der Zeit war es ihm immer wichtiger geworden, aktuelle Nachrichten mit Line zu erörtern. Es war ihm nicht leichtgefallen, das zuzugeben, aber die Unterhaltungen mit Line hatten etwas daran geändert, wie er seine eigene Rolle als Polizist begriff. Sie hatte einen unvoreingenommenen Blick auf ihn und seine Berufsgruppe, der ihn mehr als nur einmal dazu gebracht hatte, ein paar starre Ansichten über sich selbst zu hinterfragen. Spätestens bei seinem Vortrag vor Polizeistudenten, als er darüber gesprochen hatte, wie wichtig es für die Sicherheit und das Vertrauen der Menschen war, dass die Polizei mit Integrität, Anständigkeit und gutem Benehmen auftrat, war ihm klar geworden, dass Lines Ansichten einen wertvollen Aspekt darstellten. Er hatte versucht, seinen zukünftigen Kollegen zu erklären, wie wichtig die Grundwerte für die Rolle der Polizei waren. Dass es hierbei um Sachlichkeit und Objektivität ging, um Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit sowie eine stetige Suche nach der Wahrheit.
Als er zur TV-Programmübersicht ganz hinten in der Zeitung kam, standen die Studenten vom Tisch auf. Sie blieben vor der Tür stehen und knöpften sich die Jacken zu. Der größte von ihnen blickte zu Wisting herüber. Wisting lächelte und grüßte mit einem Nicken.
»Heute frei?«, fragte einer der beiden anderen.
»Einer der Vorteile, wenn Sie erst mal so lange dabei sind wie ich«, erwiderte Wisting. »Arbeit von acht bis vier und an den Wochenenden frei.«
»Danke übrigens für den tollen Vortrag.«
Wisting nahm seine Kaffeetasse. »Freut mich, dass Sie das sagen.«
Der Student wollte noch etwas hinzufügen, doch Wistings Telefon klingelte. Er zog es hervor, sah, dass Line anrief, und nahm das Gespräch an.
»Hallo Papa«, sagte sie. »Hat dich irgendwer von der Zeitung angerufen?«
»Nein«, sagte Wisting und nickte den drei Studenten zu, die auf dem Weg nach draußen waren. »Warum sollten sie? Ist was passiert?«
Line antwortete nicht sofort.
»Ich bin gerade in der Redaktion«, erklärte sie schließlich.
»Hast du nicht frei?«
»Doch, aber ich war beim Training und hab nur mal kurz vorbeigeschaut.«
Wisting trank einen Schluck Kaffee. In seiner Tochter erkannte er viel von sich selbst wieder. Die Wissbegier und den Wunsch, immer dort zu sein, wo die Dinge passierten.
»Morgen wird was über dich in der Zeitung stehen«, sagte Line. Sie machte eine Pause und fuhr dann fort: »Aber diesmal bist du es, hinter dem sie her sind. Sie wollen dich fertigmachen.«
2
Line hörte den Atem ihres Vaters im Hörer. Ziellos zog sie den Mauszeiger über den Bildschirm. Der Artikel über ihren Vater war bereit zum Publizieren. Sein Gesicht prangte auf der Titelseite.
»Es geht um den Cecilia-Fall«, erklärte sie.
»Den Cecilia-Fall?«, wiederholte Wisting am anderen Ende der Leitung.
Seine Stimme klang zögernd. Das war einer der Fälle, über die er nie hatte sprechen wollen. Eine schwierige und schmerzhafte Sache.
»Cecilia Linde«, präzisierte Line, wusste aber genau, dass ihr Vater keine Auffrischung seiner Erinnerung benötigte. Damals war er ein junger Ermittler gewesen, und die Sache hatte zu den meistdiskutierten Mordfällen des Jahrzehnts gehört.
Sie hörte ihren Vater schlucken und vernahm das Geräusch einer Tasse, die auf den Tisch gestellt wurde.
»Ja, und?«, sagte er schließlich.
Line blickte vom Bildschirm auf. Der Redaktionsleiter erhob sich vom Newsdesk und ging auf die Treppe zu, die in die darüberliegende Etage führte. Es war Zeit für die abendliche Redaktionssitzung, auf der die letzten Feinheiten für die morgige Ausgabe abgestimmt wurden und entschieden werden sollte, was auf die Titelseite kam. Der Artikel über ihren Vater füllte zwei ganze Seiten und sollte offenbar auf der Titelseite beginnen. Der Mord an Cecilia Linde war den Lesern immer noch gut in Erinnerung und würde sich auch jetzt noch, siebzehn Jahre später, gut verkaufen.
»Haglunds
Weitere Kostenlose Bücher