Jagdhunde (German Edition)
Hauptermittler.
Wisting hob die Box aus dem Regal und nahm den leicht schimmeligen Geruch von altem Papier wahr. Obenauf lag ein blauer Aktenordner mit dem Vermerk Tipps .
Er nahm die Pappschachtel mit sich, ging dann weiter an der Regalreihe entlang und blieb vor einem anderen Karton stehen. 2694/94 – Ellen Robbek. Dieser enthielt ein großes Mysterium. Wie Cecilia Linde war auch die achtzehnjährige Ellen Robbek spurlos verschwunden. Doch man hatte sie nie gefunden.
Frank Robbek war ihr Onkel gewesen. Der Fall hatte ihn als Polizisten völlig zermürbt. Das Ohnmachtsgefühl, seiner eigenen Familie nicht helfen zu können, war zu einer Wunde geworden, die nicht heilen wollte und sich nach und nach mit Eiter füllte.
Der Cecilia-Fall hatte die Eiterbeule schließlich platzen lassen.
Am Tag, als Rudolf Haglund in eine der Zellen im Keller des Präsidums gesperrt worden war, hatte Frank die Archivbox mit dem Vermisstenfall Ellen heraufgeholt. Er hatte das ganze Material noch einmal durchgelesen, aber mit neuen Augen. Augen, die Rudolf Haglund gesehen hatten. Nachdem er alles durchforstet hatte, was einmal vermerkt worden war, hatte er von vorn begonnen. Dann hatte er alles erneut durchgelesen und schließlich ein weiteres Mal. Irgendetwas war dadurch mit ihm geschehen. Zwar hatte er den Mann, der auf das Verschwinden seiner Nichte vielleicht eine Antwort geben konnte, ganz in Reichweite gehabt, aber dennoch nichts gefunden, was dazu geführt hätte, eine Antwort von ihm zu erzwingen.
Nachdem er zu lesen begonnen hatte, war er nicht länger zur Erledigung anderer Aufgaben imstande gewesen. Man hatte ihm einfache Aufträge gegeben, doch er hatte sich auf nichts anderes konzentrieren können. Einen Monat später hatte er das Präsidium zum letzten Mal verlassen, ohne dass es ihm gelungen war, einen Zusammenhang zwischen den beiden Geschehnissen nachzuweisen. Ohne seinem Bruder eine Antwort geben zu können.
Eine lang währende Krankschreibung war von Frührente abgelöst worden.
Wisting hatte Robbek in der ersten Zeit häufig besucht, doch dann waren die Abstände zwischen den Begegnungen immer größer geworden. Und mit jedem Besuch war Robbeks Verfall deutlicher hervorgetreten. Das letzte Mal war Wisting vor einem Jahr bei ihm gewesen.
Wistings Handy hatte hinter den dicken Kellerwänden keinen Empfang, begann aber zu klingeln, als er den Karton mit sich nach oben trug. Er ignorierte es und zog es nicht eher aus der Tasche, bis er die alten Falldokumente auf dem Schreibtisch abgelegt hatte. Vier verpasste Anrufe und auf der Mobilbox drei Nachrichten von einer Nummer, die nicht in seinem Telefonverzeichnis gespeichert war. Er vermutete Journalisten, die eine Stellungnahme bezüglich des Cecilia-Falls haben wollten.
Draußen vor dem Bürofenster schwirrten zwei Tauben vorbei. Der Nieselregen lag wie ein grauer Nebelschleier über dem Fjord.
Sogar in dem dicht verschlossenen Archivraum hatte sich eine dünne Staubschicht auf den Karton gelegt. Wisting fuhr mit dem Zeigefinger über den obersten Ordner. Der Staub verfestigte sich zu einem Häufchen, das er mit zwei Fingern anhob und in den Papierkorb warf.
Die blauen Ordner enthielten Hinweise, während es sich bei den grünen um die eigentlichen Falldokumente handelte, mit separater Einteilung für Zeugen, Polizeiberichte und kriminaltechnische Untersuchungen. Ein roter Ordner mit dem Vermerk Beschuldigter auf dem Aktendeckel enthielt die Aussagen von Rudolf Haglund sowie alle anderen Informationen, die über ihn gesammelt worden waren.
Außerdem gab es noch einen schwarzen Ordner, der die sogenannten ›Nulldokumente‹ enthielt; interne Fahndungsnotizen, die nicht an den Staatsanwalt oder als Kopie an den Verteidiger gingen.
An der Seite des Kartons lag auch Wistings Notizbuch über den Fall. Ein gebundenes Buch mit steifen Einbänden. Oben rechts in die Ecke hatte er seinen Namen geschrieben.
Wisting nahm das Notizbuch heraus, stellte den Karton mit den restlichen Ermittlungsunterlagen auf den Boden und schob ihn unter den Schreibtisch. Dann setzte er sich.
Ganz vorn in dem Buch lag eine Farbfotografie von Cecilia Linde im A4-Format. Der weiße Bildrand war vergilbt. Das Bild stammte aus einer Anzeigenkampagne für eine der Modekollektionen ihres Vaters. Canes stand über ihre Brust geschrieben. Darunter stand in kleineren Buchstaben Venatici. Es war das gleiche Bild, das in Verbindung mit der Fahndung verwendet worden war. Diese hatte damals einen
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