Jagdopfer
morgens nicht das Bett machen zu müssen. Mom hatte gemeint, sie könne die Handtücher ruhig auf dem Fußboden im Badezimmer lassen - das
war herrlich. Aber dann hatte Sheridan auch schon in die Schule gemusst. Lucy hatte im Motel bleiben wollen. Sie sei genauso scharf auf Luxus wie Großmutter Missy, hatte Mom da gesagt.
In der Schule hatten sich die fiesen Mädchen um sie geschart und nach dem toten Ausrüster und ihrem Vater gefragt. Und was in den Bergen passiert sei. Sheridan stand ausnahmsweise im Zentrum der Aufmerksamkeit, und das gefiel ihr. Die Mädchen, die sie »Landei« genannt hatten, wollten jetzt mit ihr zu tun haben, weil sie einen echten Toten gesehen hatte. Sie fragten, wie er ausgesehen habe, vor allem die Augen. Auf merkwürdige Weise hatte das Monster Sheridan nicht nur ein Geheimnis, sondern auch eine Menge Glück gebracht. Und sie mochte das Glücksgefühl, das ihr Geheimnis ihr beschert hatte. Ein Mädchen, Melanie, das sehr beliebt war und bisher nie mit ihr gesprochen hatte, hatte Sheridan sogar gefragt, ob sie ihre beste Freundin sein wolle.
Sie hätte Mom im Motel fast erzählt, was sie im Holzstapel gesehen hatte, sich aber doch dagegen entschieden. Sheridan hatte an ihrem Geheimnis wahre Freude und wollte die Tiere wiedersehen. Irgendwie war ihr klar, dass ihre Entdeckung wichtig war. Wenn schon der Anblick eines Toten so viel Aufmerksamkeit erregte - was wäre erst los, wenn die Leute von den geheimen Haustieren wüssten?
Als Sheridan aus der Schule nach Hause kam, sah es aus, als habe Mom die oberen Holzscheite, an denen Blut klebte, weggeschafft und die Flecken vom Beton zu schrubben versucht. Sheridan konnte noch immer etwas Blut auf dem Weg sehen, aber sie musste ganz schön danach suchen.
Ein leises Geräusch zog ihre Aufmerksamkeit vom Weg auf den Holzstapel. Von dort schauten durchdringende schwarze Augen zu ihr rüber. Sheridan hielt den Atem an und fürchtete, schon die kleinste Bewegung werde das kleine Wesen verscheuchen. Sie wusste nicht, wie lange es sie schon beobachtet hatte, denn sie hatte nicht bemerkt, dass es den Kopf zwischen den Enden zweier dicker Scheite herausgestreckt hatte. Das Geschöpf war vollkommen reglos und am Anfang schwer zu erkennen.
Das kleine Tier hatte einen runden, knubbeligen Kopf und große, leuchtende Augen. Die Ohren standen ihm senkrecht und tellerförmig vom Kopf ab, wie bei Micky Maus. Die Nase saß winzig und rosa auf der schmalen Schnauze. Anscheinend hatte es kein Kinn. Das Tier war hellbraun, und ein dunkler Streifen lief ihm über den Kopf und zwischen Ohren und Augen bis zur Schnauze. Auch einen langen, dünnen Hals konnte Sheridan erkennen, aber der Rest des Körpers blieb im Dunkel zwischen den Scheiten verborgen. Nur eine kleine Pfote mit schlanken Zehen und Krallen war noch auf der Rinde zu sehen. Sie war zierlich und schön geformt, und das Tier schien damit kleine Dinge greifen und hochheben zu können.
Sheridan war begeistert, dass das Geschöpf noch nicht wieder zwischen die Stämme geflüchtet war, sondern sitzen blieb und sich betrachten ließ. Sie mochte seine großen, dunklen Augen. Es sah nicht nur süß aus, sondern auch schlau, denn es blickte intelligent und funkelnd.
Sheridan hielt mit dem Tier Augenkontakt und nahm vorsichtig eine Handvoll Cornflakes aus ihrer Schüssel. Sie warf sie Richtung Stapel und versuchte, den Arm dabei nicht zu schnell zu bewegen. Als die Cornflakes auf
die Stämme regneten, schoss das Geschöpf wieder zwischen die Scheite zurück.
Schon begann Sheridan, die Idee mit den Cornflakes zu bereuen - wahrscheinlich hatte sie das Tier verängstigt und in sein Versteck gescheucht. Da tauchte der kleine, runde Kopf wieder auf. Diesmal blieb Sheridan still sitzen und versuchte, ganz ruhig zu atmen. Wenn nur das Herz nicht so laut pochen würde! Sie hätte vor Aufregung schreien können, traute sich aber nicht.
»Da bist du ja wieder, Kleiner«, flüsterte sie.
Das Geschöpf schaute diesmal weiter als zuvor zwischen den Scheiten heraus. Sheridan konnte seine winzigen Schultern und beide Vorderpfoten erkennen. Sein langer, schmaler Körper sah nun eine Handbreit aus dem Schlupfloch. Der schwarze Streifen lief ihm auch über den Rücken. Das Tier fasste ein paar Cornflakes ins Auge, die direkt unter ihm in einer Astgabel gelandet waren. Es sah vom Futter zu Sheridan und dann wieder auf das Futter. Plötzlich kam es blitzschnell aus dem Loch, stopfte sich die Cornflakes in die Backe, drehte
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