Jagdopfer
er zu atmen. Aber dann erkannte er die Silhouette als Vern Dunnegan, seinen alten Ausbilder, den Mann, der den großen Schatten warf. Vern schaltete die Nachttischlampe ein.
»Hallo, mein Sohn«, sagte er freundlich.
Jetzt konnte Joe ihn deutlich sehen. Vern hatte zugenommen, war aber auch früher schon ganz schön dick gewesen. Er hatte einen sauber gestutzten, dunklen, da und dort schon grau melierten Vollbart im runden, jovialen Gesicht, eine knollige Nase und dunkle, prüfende Augen. Trotz seiner Leibesfülle war er immer agil gewesen und hatte stets den Eindruck eines Mannes mit guter Haltung erweckt. Vern hatte ein schnelles, munteres Lachen, das immer und überall erscholl und oft verbarg, was er wirklich dachte und was er sagen oder tun würde. Das gehörte zu den Dingen, die Marybeth nie an ihm gefallen hatten. Sie fand Vern herablassend, vor allem Joe gegenüber. Er sei berechnend und beeinflusse andere,
sagte sie. Und sie mochte nicht, dass ihr Mann manipuliert wurde. Als Jagdaufseher hatte Vern die allerhöchste Meinung von sich und seinem Einfluss im County und in Wyoming. Damit lag er im Allgemeinen richtig. Alle Welt kannte und respektierte ihn. Und viele fürchteten ihn. Aber er hatte sich immer als einen Förderer Joes betrachtet, war mit ihm stets fair umgegangen und hatte ihm manchen Vorteil verschafft. Vern war es gewesen, der sich - letztlich erfolgreich - dafür stark gemacht hatte, dass Joe wieder nach Saddlestring kam. Und einer von Verns Lieblingen zu sein, schadete Joe innerhalb der Jagd- und Fischereibehörde auch nicht gerade.
Vern setzte sich weiter unten aufs Bett. Joe spürte, wie die Matratze absackte. »Ich hab gerade mit Wacey gesprochen«, sagte Vern. »Meine Jungs haben da oben alles prima erledigt. Wie geht’s deiner Wange? McLanahan, der alte Scharfschütze, hat dich erwischt, was?«
Joe nickte und sagte, es gehe ihm ganz gut. Nur müde sei er. Geistesabwesend berührte er seinen Verband.
»Magst du was trinken? Ich hab meinen Flachmann dabei - Maker’s Mark, nicht mehr Jim Beam, wie früher. Ich bin ein paar Bourbonklassen aufgestiegen.«
Joe schüttelte den Kopf. Er dachte daran, wie ärgerlich Marybeth immer geworden war, wenn er nach einem Gelage mit Vern spät nach Hause gekommen war und vorgegeben hatte, »nur ein paar Bierchen« getrunken zu haben.
Vern schien seine Gedanken zu lesen.
»Wie viele Kinder habt ihr jetzt eigentlich?«
»Zwei. Sheridan und Lucy. Und Marybeth ist schwanger.«
Vern lachte und schüttelte den Kopf. »Eine liebevolle
Frau, zwei wunderbare Kinder. Und dazu ein Haus mit einem Palisadenzaun - mit einem ›picket fence‹, Mr Pickett. Habt ihr noch euren Labrador?«
»Maxine? Ja.«
Vern lachte weiter - kopfschüttelnd.
»Erzähl mir was über Ote Keeley.«
Joe berichtete ihm all die Einzelheiten, nach denen Sheriff Barnum nicht gefragt hatte. Dunnegan winkte ab, als Joe zur Ankunft der Rettungssanitäter gekommen war.
»Interessant. Hast du die Kotkügelchen eingeschickt?« Joe nickte.
»Schon was gehört?«
»Noch nicht. Ich will morgen anrufen.«
»Sag mir Bescheid. So was interessiert mich noch immer.«
»Klar«, sagte Joe. Und nach einer kurzen Pause: »Wie geht’s Georgia?«
»Gut, wirklich gut. Sie lebt ganz ordentlich von meinem Unterhalt.«
»Das wusst ich gar nicht.«
»Weißt du, Joe, ich hatte eine Erkenntnis. Ich hab begriffen, dass ich ohne häufige Partnerwechsel einfach nicht leben kann. Ich hab Georgia doch keinen Gefallen damit getan, bei ihr zu bleiben und nebenher - wie du weißt - ständig Frauen nachzusteigen. Vor acht Monaten bin ich morgens einfach aufgewacht, hab mich umgedreht und in ihr geschwollenes Gesicht geblickt und beschlossen, dass ich das nie wieder will. So einfach war das. Ich wollte neben anderen Frauen aufwachen - neben jüngeren und älteren, neben Frauen mit dicken Lippen und großen Brüsten. Ich wollte die Stimmen anderer
Frauen hören. Also hab ich meine Sachen gepackt und Georgia bis zur Scheidung nicht mehr gesehen.«
Dunnegan lächelte, zuckte die Achseln und zeigte Joe die Handflächen und alle zehn Wurstfinger. »Das könnte jedem passieren«, fuhr er fort. »Männer sind Streuner. So sind wir eben. Wir versuchen zu tun, als sei es anders, aber tief drinnen wissen wir, dass es so ist. Wir wachen mit’nem Ständer auf, und es ist eigentlich egal, welche Frau neben uns liegt - Hauptsache, sie lässt uns ran.«
Vern ließ wieder sein munteres Markenzeichen erschallen, musterte
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