Jagdopfer
Windschutzscheibe und ließ das Radio laufen. Die Sonne hatte den Morgennebel längst verdunsten lassen. Es war ein warmer, trockener und wolkenloser Tag.
Von seinem Aussichtspunkt beobachtete Joe, wie sich weiter unten in der Ferne ein filmreifes Szenario entwickelte. Eine große Herde von fast achtzig Pronghorns graste verstreut auf einer Hochebene. Die Tiere bewegten sich langsam von Ost nach West und schauten beim Äsen immer wieder misstrauisch auf. Weiter westlich näherte sich ein weißes Fahrzeug auf einem kurvenreichen, nur für Geländewagen geeigneten Weg, der unterhalb des Plateaus verlief und von der Herde nicht gesehen
werden konnte. An den Bewegungen der antilopenähnlichen Tiere konnte Joe erkennen, dass sie das Auto noch nicht bemerkt hatten.
Joe aß sein mit Huhn und grünem Salat belegtes Brot und fasste dabei den weißen Pick-up mit dem Fernglas genauer ins Auge. Jetzt erkannte er den vorsintflutlichen Wagen und die zwei alten Jäger. Sie hielten an und stiegen langsam den Steilhang zur Hochebene hinauf. Dafür brauchten sie fast eine halbe Stunde. Oben angekommen, kauerten sie sich hinter einem Wall aus hohem Salbeigebüsch nieder, um zu zielen.
Joe äugte über den Rand seines Fernglases und beobachtete die Herde, die plötzlich als Ganze zum Leben erwachte und blitzschnell über die Hochebene nach Osten raste. Jedes Tier zog dabei eine dünne Staubwolke nach sich. Dann erst drangen zwei schwere Schüsse - durch die Entfernung verzögert - zu ihm herüber. Einer davon war sicher ein Treffer. Joe blickte wieder durchs Fernglas und konnte mindestens ein niedergeschossenes Pronghorn erkennen. Jetzt ging der eine Jäger auf das Tier zu, und der andere stieg den Abhang runter, um den Pick-up zu holen.
Joe spülte die letzten Bissen mit ein paar Schluck Kaffee runter, ließ den Wagen an und fuhr den Hügel hinab. Die Herde war schon weit geflohen, rannte aber noch immer sehr schnell. Einzelne Tiere konnte er nun nicht mehr erkennen, nur eine rasch zurückweichende weiße Staubwolke. Pronghorns oder Gabelböcke sind die zweitschnellsten Säugetiere der Welt - nur die Geparden in Afrika erreichen ein höheres Tempo.
Als Joe mit seinem Wagen auf der Hochebene auftauchte, hatten die Jäger das Pronghorn schon ausgeweidet
und waren dabei, die Hinterläufe am Haken eines Krans zu befestigen, der auf der Ladefläche ihres Pick-ups montiert war. Joe sah, dass es sich bei den alten Männern um Hans und Jack handelte, einen Landarbeiter in Rente und einen pensionierten Lehrer. Beide lebten in Saddlestring. Hans arbeitete inzwischen als Hausmeister in Teilzeit. Genau genommen putzte er Geschäfte im Stadtzentrum, z.B. den Gemischtwarenladen und die Videothek. Die beiden gingen schon seit über dreißig Jahren zusammen auf die Pirsch und hatten die Pronghornjagd zu einer jährlich wiederkehrenden Kunst entwickelt. Ihr Wagen war eine Fleischwarenfabrik auf Rädern, die sie selbst gebaut hatten. Je älter sie wurden, desto mehr tüftelten sie aus, um das Auto ihren Jahren anzupassen, ihrem wachsenden Perfektionstrieb in der Fleischverarbeitung und ihrem ständig zunehmenden Appetit auf Wild. Mit der alten, eisgefüllten Gefriertruhe, die fast die ganze Ladefläche einnahm, hatten sie begonnen. Sie hatten gelernt, das Fleisch so schnell wie möglich zu kühlen, um an warmen Septembertagen jeglichem Verderb vorzubeugen. Dann hatten sie Winde und Kran montiert, um die erlegten Tiere vom Boden hochzuziehen und sie so besser enthäuten und stärker auskühlen lassen zu können.
Jetzt zeigten sie Joe ihre neueste Erfindung, einen Zwanzigliterwassertank mit Schlauch. »Das Ganze arbeitet nach dem Prinzip der Schwerkraft«, erläuterte Jack. Damit könnten sie die enthäuteten Tiere waschen und abschrubben. Joe sah zu, wie die Jäger das Pronghorn in Viertel zerlegten, jedes einzeln hochwanden und mit dem Kran in die Kühltruhe bugsierten. Hans bewegt sich wackeliger als früher, dachte Joe. Jack weiß schon, warum er von ihm Abstand hält, wenn sie mit ihren Messern arbeiten.
Dann stellte Hans Joe eine seltsame Frage.
»Haben Sie mal was von gefährdeten Tierarten gehört, die in den Bergen gefunden worden sind, Mr Pickett?«
»Was?« Joe achtete plötzlich stärker darauf, was die beiden Alten redeten.
»Hans - bitte.« Jack starrte seinen Partner an.
»Ging mir nur so durch den Kopf«, sagte Hans mit gedankenverlorener Unschuldsmiene. Die beiden blickten sich kurz an und arbeiteten weiter. Joe wartete auf
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