Jagdopfer
Während Joe las und hoffte, dass sein kleiner Bruder schlief, hörte er das Klirren von Eiswürfeln im Shaker. Sein Vater war der letzte große Martinitrinker, und heute Abend hörte Joe den Shaker schon zum achten Mal. Gebrüll und Krachen wurden immer wieder von kurzen Phasen der Stille unterbrochen, in denen nur das Eis klirrte. Als hätten beide Parteien sich auf eine Ruhepause verständigt, in der sie nachtankten. Joe war klar, dass die Nachbarn das Spektakel vermutlich auch gehört hatten.
Seine Taschenlampe leuchtete immer schwächer, doch
er hatte die Zeitschrift noch nicht zu Ende gelesen. Also kletterte Joe vom Trampolin und versuchte, sich durchs Haus in sein Schlafzimmer zu schleichen, wo neue Batterien lagen. Er wollte nicht gesehen werden, und er wollte seine Eltern nicht sehen, aber in der Küche trat er barfuß in die Glasscherben und hinterließ auf dem Teppich im Flur blutige Spuren. Mit zwei Batterien in der Pyjamatasche kam er wieder aus seinem Zimmer, und auf dem Weg nach draußen begegnete er seiner Mutter im Flur. Sie war - wie nicht selten - betrunken und sentimental und überschüttete ihn mit rührseligen Küssen. Das war immerhin besser als ein Wutanfall und kräftige Ohrfeigen - die hätte Joe sich wegen der Blutflecke auf dem Teppich sicher gefangen, wenn seine Mutter nüchtern gewesen wäre. Stattdessen führte sie ihn ins Badezimmer. Während sie versuchte, Glassplitter aus seinen Füßen zu ziehen, und dabei versicherte, wie leid es ihr tue, die Gläser auf dem Küchenboden zerbrochen zu haben, beobachtete Joe sie und zuckte zusammen. Ihre Schminke war tränenverschmiert, und beim Reden tanzte ihre Zigarette im Mund auf und ab. Das erinnerte ihn daran, dass sie sich selbst als Hipster aus den frühen 60ern betrachtete. Weil seine Mutter in so schlechter Verfassung war, schob sie ihm die Splitter mit der Pinzette eher tiefer ins Fleisch, bis sie endlich ihr Gleichgewicht so weit fand, dass sie sie rausziehen konnte. Er sagte, es sei schon gut, obwohl es nicht gut war, und verband sich dann selbst die Füße, während sie schon wieder bei seinem Vater und den Martinis war.
Mit neuen Batterien leuchtete die Taschenlampe hell und stark. Joe lag bäuchlings im Schlafsack und wünschte sich, in den Bergen zu leben, irgendwo, nur nicht hier.
Und genau in diesem Augenblick stieß er auf die Anzeige im hinteren Teil von »Pelztiere, Fisch und Wild«:
Wie man Jagdaufseher wird
Wollen Sie wirklich an Schreibtisch, Maschine oder Ladentheke gefesselt bleiben?
Mit diesem leichten Fernstudium bereiten Sie Ihre aufregende Karriere als Naturschützer und Ökologe vor.
Männer, die sich für den Wald und die Tierwelt begeistern, jagen Berglöwen, springen mit dem Fallschirm ab, um verlaufenen Tieren zu helfen, oder retten verletzte Camper.
Leben Sie endlich das Leben, das Sie lieben - das Leben in freier Natur!
Schlafen Sie unter Kiefern und angeln Sie Ihr Frühstück aus kristallklaren Bächen.
Sie werden sich pudelwohl fühlen.
Und umwerfend gut aussehen!
Unter dem Text lächelte der Traum von einem Jagdaufseher, ein von der Wildnis gegerbter Mann mit Hut, der ein Tier in die Kamera hielt, offenbar einen Luchs. Er sah tatsächlich umwerfend gut aus.
»Ich will Jagdaufseher werden«, sagte Joe laut.
»Ich auch«, murmelte Victor zu Joes Überraschung tief aus seinem Schlafsack hervor. »Ich will da sein, wo du bist.«
Joe fasste in Victors Schlafsack, und die beiden gaben sich die Hand darauf. Am nächsten Tag sandte er fünf
Dollar für nähere Informationen ein. Und was er dann erhielt, festigte seinen Berufswunsch nur.
Victor folgte ihm nicht. Zehn Jahre nach dieser Sommernacht - Joe war im zweiten Studienjahr, sein Bruder stand kurz vor dem Highschoolabschluss - trennte sich Victor von seiner Freundin, betrank sich und raste mit seinem Auto in den großen Steinbogen am Nordeingang des Yellowstone-Nationalparks. Es war drei Uhr morgens, und er fuhr fast 180 Stundenkilometer.
Niemand wusste, warum Victor zwei Stunden zum Yellowstone Park gefahren war, um das zu tun. Joe konnte nur vermuten, dass die Mischung aus Alkohol und Aggressionen bei seinem Bruder zu einem bösen Aufruhr der Gefühle geführt hatte und ihm ein Ort wie Yellowstone als Fluchtmöglichkeit erschienen sein mochte.
Joe parkte seinen Pick-up auf einer Hügelkuppe. Von dort konnte er den größten Teil der Breaklands überblicken. Er aß seine Brote und trank Kaffee. Dabei sah er mit dem Fernglas durch die
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