Jagdopfer
zurückzukehren.
Wenn sie sich nur irgendwie gegen ihn verteidigen könnte! Sie musterte ihre Bestände - die Pferdedecke, eine Haarspange, in den Taschen zwei Centstücke. Sie hatte noch nicht mal einen Stock. Wäre sie jetzt in einem Film, könnte sie aus diesen Sachen bestimmt was Raffiniertes basteln und den Bösen erledigen. Aber das hier war kein Film. Sie fror. Und sie hatte Angst.
Dann sah sie die Scheinwerfer vom Wolf Mountain kommen. Sie beobachtete, wie sie den Fluss kreuzten und die Bighorn Road entlangkamen. Schließlich bog der Wagen in die Einfahrt. Sie hörte eine Tür zufallen, konnte aber nicht sehen, wer am Steuer gesessen hatte.
Kurz darauf sah sie im Haus jemanden am hinteren Panoramafenster vorbeigehen. Dann ging die Taschenlampe an, und Wacey kam aus der Hintertür. Und zwar mit Gewehr.
»Huhu! Sheridan? Gibt’s dich noch?«
Sie begann zu weinen. Einen Augenblick lang hatte sie gedacht, das sei ihr Vater.
»Sag was, Schätzchen, damit ich weiß, dass es dir gut geht!« Er klang freundlich - wie immer am Anfang.
Sie weinte jetzt heftig und hemmungslos. Als seien alle Dämme gebrochen.
»Drinnen ist es warm und gemütlich, Sheridan. Ich mach gerade Kakao heiß. Schönen warmen Kakao mit klitzekleinen Marshmallows. Die hab ich im Küchenschrank gefunden. Mmmmhh! Dir muss da oben doch langsam ein bisschen kalt werden.«
Sie konnte nicht aufhören zu weinen und ließ das Gesicht in die Hände sinken.
Für kurze Zeit war es unten still.
Dann: »Ich höööör dich! Ich hör dich da oben. Wein nicht länger, sonst fühl ich mich ganz schlecht. Ich will doch nicht den ganzen Kakao alleine trinken.«
Sie kletterte vom Felsblock. So plötzlich, wie sie zu weinen begonnen hatte, hatte sie es sein lassen. Sie war entsetzt, dass Wacey sie gehört hatte. Jetzt wusste er genau, wo sie war.
»Das ist ja mitleiderregend, Sheridan. Komm doch endlich runter, damit ich nicht hochklettern und dich holen muss.«
Sie schlug sich am Felsblock entlang durch einen Wacholderstrauch, damit sie das Gelände unten wieder überblicken konnte. Er stand noch immer im Schein der Hofbeleuchtung, hatte das Gewehr angelegt und versuchte, sie durch das Zielfernrohr zu erkennen. Aber er sah in die falsche Richtung, irgendwo links von ihr. Vielleicht wusste er ja doch nicht, wo sie war? Vielleicht hatte ihr Schluchzen ein Echo geworfen, das ihn täuschte? Wie auch immer - er kam nicht hoch. Noch nicht.
Bei Sonnenaufgang würde sich das ändern.
35
Um drei Uhr nachts kam Joe Pickett mit heulendem Motor aus Richtung Billings in Saddlestring an. Die vier Ampeln blinkten gelb, und niemand war unterwegs. Die letzten Kneipen waren schon geschlossen und Frühaufsteher noch nicht auf den Beinen. Die ganze Stadt war mausetot.
Joe fuhr die Hauptstraße runter bis zu Barretts Apotheke. Dort parkte er den Wagen um die Ecke und musterte sich im Rückspiegel. Er erwartete, dass seine Augen rot glühten. Wie die eines Teufels oder Aliens. Er war völlig übermüdet und ganz ausgelaugt. Die letzten beiden Nächte hatte er kein Auge zugetan und seit dem Frühstück, also seit bald zwanzig Stunden, nichts mehr gegessen.
Und er kochte vor Zorn. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis er explodierte. Fragte sich nur noch, wie viele Menschen seine Wut abbekämen.
Die Apotheke war schwach erleuchtet. Joe drückte das Gesicht ans Schaufenster und blickte hinein. Auf dem Parkplatz hatte er einen Pick-up gesehen, an dessen Fahrertür das Magnetschild »Hans - der hilfreiche Hausmeister« haftete. Und tatsächlich brummte Hans gerade mit dem Staubsauger durch den Gang mit Illustrierten und Taschenbüchern. Joe klopfte ans Fenster, aber Hans blickte nicht hoch - bei dem Lärm konnte er ihn nicht hören. Joe schlug wieder gegen die Scheibe, diesmal ganz fest. Er ließ es drauf ankommen, dass sie zersprang oder Alarm ausgelöst wurde. Aber Hans, der ohnehin halbtaub war, reagierte nicht.
Joe nahm die Taschenlampe vom Gürtel und richtete sie Hans genau ins Gesicht. Der kniff die Augen zusammen und fuhr sich geistesabwesend über die Lippen - ihm war noch nicht recht klar, was ihn eigentlich störte. Als er endlich hochsah, schreckte er zurück und stolperte beinahe ins Bestsellerregal. Joe leuchtete sich mit der Taschenlampe ins Gesicht, damit Hans ihn erkennen konnte, und hielt seine Dienstmarke ans Fenster. Hans stand da und grübelte, das Kinn in der Hand. Dann winkte er Joe zum Hintereingang.
»Eigentlich dürfte ich Sie nicht
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