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Jagdopfer

Jagdopfer

Titel: Jagdopfer Kostenlos Bücher Online Lesen
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wieder zu trinken. Auf dem Flur war es noch immer ruhig.
    »Du hast erst ein bisschen geredet und dein Gewissen erleichtert. Du bist eine Zentnerlast losgeworden«, sagte Joe. »Und danach bist du gestorben. Als du mit dir im Reinen gewesen bist.«
    »Tatsächlich?«, fragte Lidgard.
    »Also - los geht’s.«
     
    Als Joe das Zimmer verließ, lehnte der Polizist noch immer bei der Nachtschwester am Tresen. Und Clyde Lidgard war tot.
     
    Kaum wurde Marybeth aus dem OP geschoben, fiel Joe als Erstes auf, dass sie im Vergleich zu Clyde Lidgard bemerkenswert gesund aussah. Er tastete unter dem Laken nach ihrer Hand und drückte sie im Gehen. Als er auf ihren flachen, verbundenen Bauch sah, traten ihm Tränen in die Augen.
    Joe musste ihre Hand einen Augenblick loslassen, als die Schwestern das Bett in Marybeths Zimmer schoben und fest stellten. Dann bereiteten sie die Infusion vor, und Joe trat wieder zu Marybeth. Die Schwestern sagten ihm, sie habe gerade ein starkes Beruhigungsmittel bekommen und werde bis in den Morgen schlafen.
    Doch das Mittel wirkte noch nicht ganz, denn sie wachte kurz auf.

    »Du wirst wieder gesund«, sagte Joe und lächelte gezwungen. »Du schaffst es und wirst ganz gesund.«
    Sie schaut mich an und sucht Sicherheit, dachte er. Hoffentlich geb ich sie ihr.
    »Marybeth, weißt du, wer das getan hat?«
    »Das konnte ich nicht erkennen. Ich weiß nur, dass es ein Mann war.«
    »Kannst du mir irgendwas Näheres erzählen?«
    »Was ist mit meinem Baby?« Ihre Stimme war träge.
    Joe schüttelte den Kopf.
    Sie blickte weg und weinte mit zugepressten Augen. Er drückte ihre Hände.
    Plötzlich sah Marybeth ihn an und musterte verzweifelt sein Gesicht.
    »Wo ist Sheridan? Sie sollte weglaufen.«

Sechster Teil
    Wie Blinde, die einen mechanischen Elefanten bauen, nahm jeder Beteiligte Hammer und Schraubenschlüssel und bastelte für sich und oft im Geheimen am Getriebe, verlötete Drähte und brachte das Walzblech in Form. Einer baute ein Bein, ein anderer den Schwanz, ein Dritter den Rüssel. Da erwachte dieses Konstrukt plötzlich wie ein furchtbarer Android zum Leben, bewegte sich ruckartig hin und her, verschlang seine Erbauer und zermalmte sie in seinem Getriebe. Außer Kontrolle torkelte es dann unbekannten Zielen zu - ohne Zweck, ohne Beschränkungen und ohne Reue.
     
    Alston Chase über Entstehung und unbeabsichtigte Folgen des Gesetzes zum Schutz gefährdeter Arten.
     
    Aus: IN A DARK WOOD, 1995

34
    Sheridan hatte noch nie so gefroren, noch nie solchen Hunger gehabt und sich noch nie so allein gefühlt. Als das Feuer unten niedergebrannt war, senkte sich die Nacht stockfinster über den Hang. Sheridan igelte sich am Fuß des Felsblocks ein und versuchte, die Pferdedecke fest um sich zu schlagen, aber die war dafür zu steif. Und auch zu klein, um sie rundum zu wärmen. Felsblock, Boden und Luft waren eisig. Wie gern hätte Sheridan jetzt den Rucksack dabeigehabt, denn da waren lauter Essensreste drin. Sie hatte heute zum ersten Mal das Abendbrot verpasst. Wenn sie nur irgendetwas Gewohntes tun könnte - in den Pyjama schlüpfen oder Zähne putzen. Dann würde sie wenigstens ein bisschen Normalität spüren. Sie wusste nicht, wie spät es war, aber auf jeden Fall spät. Der Mond stand nicht am Himmel, und die kalten, klaren Sterne funkelten erbarmungslos.
    Nachttiere waren unterwegs. Eins, das sich den Schritten nach wie ein Hund anhörte, war den Steilhang runtergekommen, hatte dann aber angehalten, als es Sheridan gewittert oder gespürt hatte. Mit plötzlichem Tapp-Tapp-Tapp hatte es die Laufrichtung geändert und war wieder bergauf durchs Gebüsch gebrochen. Sheridan war sehr darüber erschrocken, weil sie für einen Moment dachte, das sei Wacey. Aber dann war sie ziemlich sicher, dass es ein Kojote gewesen war. Davon gebe
es hier oben viele, hatte Dad gesagt. Sie hatten immerhin ihren Welpen und ihr Kätzchen gefressen.
    Sheridan hatte geschlafen, wusste aber nicht, wie lange. Ein durchdringender Knall - ein Schuss von irgendwo in den Bergen - hatte sie vor ein paar Minuten wachgeschreckt. Sie horchte auf weitere Schüsse - nichts. Sie kroch wieder auf den Felsblock und sah hinunter. Vom Feuer waren nur noch Asche und dunkelrot glühende Holzkohle übrig. Die Lampen im Haus brannten noch immer, aber Sheridan konnte den Mann nirgendwo sehen - keine Bewegung, weder drinnen noch draußen. Es war kein gutes Gefühl, nicht zu wissen, wo er war. Sie dachte kurz daran, zum Haus

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