Jagdopfer
Dann rief er ein viertes Mal im Büro des Sheriffs an. Unglaublich, was er für ein Pech hatte. Anscheinend waren die Telefonverbindungen im ganzen Bezirk gestört.
Also lief er in den Fluren herum und schaute immer wieder auf die Armbanduhr. Die Korridore sahen alle gleich aus - dick mit hellblauer Farbe bekleisterte Betonwände; gedämpfte Neonbeleuchtung; auf dem Plattenboden da und dort schwarze Spuren von den Rädern der Betten; eine Nachtschwester auf jeder Station, die ihn über ihren Schreibtisch hinweg musterte. Er machte das Zimmer ausfindig, wo Marybeth liegen würde. Ihr Name stand auf einem Pappschild an der Tür - die Tinte war noch nicht trocken. Sie würde dort allein liegen, bemerkte er. Ohne Zimmergenossin. Dann ging er den Flur entlang zur Entbindungsstation und hörte Babys schreien. Er ertappte sich dabei, wie er eine junge Mutter anstarrte, die von der Schwangerschaft noch mollig und von der Geburt noch erhitzt war. Sie wiegte ein winziges rotes Baby in den Armen und wartete darauf, dass die Schwester sie in ihr
Zimmer fuhr. Dieser Anblick haute ihn um. Ganz benommen stieg er die Treppe zum nächsten Stock hoch.
Joe lief planlos herum, vermittelte aber den Eindruck, ein Ziel zu haben, und niemand hielt ihn auf. Im Vorbeigehen blickte er kurz durch die Türscheiben in die Zimmer und sah, dass hier ältere Leute lagen. Leute, die auf Besserung oder den Tod warteten. Im Fernsehen lief eine Talkshow.
Ein Polizist aus Billings stand im Schwesternzimmer und lehnte sich lässig gegen den Tresen. Er beachtete Joe im Vorbeigehen nicht weiter, sondern sprach leise auf eine attraktive Krankenpflegerin ein. Sie schien an dem interessiert, was er erzählte, tat aber gelangweilt. Joe bemerkte den leeren Stuhl des Polizisten neben einer Tür am Ende des Flurs und ging dorthin. Auf dem Schild an der Zimmerwand stand »C. Lidgard«.
Joe ging noch ein paar Schritte, bevor der Groschen fiel. Er hielt an und schaute über die Schulter den Gang entlang. Der Polizist stand mit dem Rücken zu ihm. Joe zögerte einen Augenblick, machte dann kehrt und betrat den Raum. Leise schloss er die Tür hinter sich.
Lidgards Zimmer wurde nur von einer schwachen Glühbirne beleuchtet, die am Kopfende des Bettes montiert war. Joe erkannte Clyde kaum. Er sah aus wie achtzig und war fast nur noch ein Gerippe. Seine Haut war wächsern, gelb und stark verrunzelt. Aus beiden Armen entsprang ein Gewirr von Schläuchen - wie die weißen Wurzelfäden einer gekeimten Kartoffel. Sein Kopf lag zur Tür gewandt auf dem Kissen, und sein silbriges, dünnes, fast fedriges Haar strahlte im Schein der Lampe.
Joe starrte Clyde Lidgard ins Gesicht, als wolle er ihn aus dem Koma wecken.
»Erzähl mir, was du weißt, Clyde«, sagte er. »Erzähl mir einfach, was du weißt.«
Als Lidgards Augen sich langsam öffneten, stand Joe wie angewurzelt da. Sie waren wässrig und schleimverklebt. Joe war nicht sicher, ob Lidgard überhaupt etwas sehen konnte. Es war doch unmöglich, dass er tatsächlich wach war oder Joes Anwesenheit irgendwie bemerkte. Vielleicht tat er das im Schlaf immer.
»Hörst du mich, Clyde?«, fragte Joe leise. Nicht unwahrscheinlich, dass eine Nachtschwester oder der Polizist jeden Moment ins Zimmer stürmten und ihn rauswarfen.
Lidgard bewegte die Lippen, als lutsche er ein Bonbon.
»Dein Mund ist ganz trocken. Willst du was trinken?«, fragte Joe und schüttete Wasser aus einem Plastikkrug in einen kleinen Pappbecher. Den setzte er Lidgard an die Lippen, und Clyde trank. Seine Augen folgten Joes Bewegungen.
»Weißt du, wer ich bin?«, fragte Joe ruhig.
»Aufseher.« Die Antwort kam so schwach, dass Joe sie fast nicht verstehen konnte. »Aufseher.« Er stellte den Krug auf den Nachttisch und beugte sich über Lidgards Gesicht. In seinem Atem roch er den Gestank der Verwesung. Genauso roch Wild nach dem Abschuss.
»Stimmt. Ich bin Jagdaufseher Joe Pickett aus Saddlestring. Du musst mir erzählen, was oben im Lager passiert ist.«
Lidgards Augen fielen kurz zu und öffneten sich wieder. »Ich werd jetzt sterben«, flüsterte er.
»Nicht, bevor du mir erzählt hast, was da oben los war«, beharrte Joe. »Erst, wenn du mir von den Miller-Wieseln berichtet hast.«
Clyde Lidgards Mundwinkel zuckten ganz leicht. Als versuche er zu lächeln.
»Ich hab ein paar gute Fotos von diesen Wieseln gemacht«, antwortete er. »Aber ich hab nie gesehen, ob sie was geworden sind. Stattdessen bin ich gestorben.«
Joe gab Lidgard
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