Jagdzeit
keine Panik, alles wird gut! Ich bin im Besitz einer der bedeutendsten Erfindungen der gesamten Menschheitsgeschichte, und ich werde nicht zögern, sie zu benutzen. Das wäre ja gelacht! Ich zücke mein Mobiltelefon. Ein Anruf bei der Polizei, dort wird man bestimmt wissen, was zu tun ist. Einen Suchtrupp losschicken, falls das nicht ohnehin schon geschehen ist, oder mich via Satellit orten, per Hubschrauber aufspüren, whatever. So ein polizeilicher Geleitschutz könnte praktisch sein, wenn ich dieses Tal jemals lebend verlassen will! Von mir aus darf es auch dieser tollpatschige Inspektor Clouseau sein, Hauptsache, ich komme so schnell wie möglich raus aus dem Wald, raus aus der NATUR, raus aus dem schrecklichen Bergdorf und, mit quietschenden Reifen, nach Hause in die Großstadt. Amen.
»Netzsuche.« Drei Silben auf meinem Display, von denen ich nicht behaupten kann, dass sie mir gerade jetzt in diesem Moment große Freude bereiten. Das ist wieder einmal typisch für das Kaff! Nirgendwo in Europa habe ich bisher Schwierigkeiten gehabt, eine anständige Verbindung zu meinem Netzbetreiber zu bekommen. Ich bin mit diesem Gerät mehrmals durch ganz London gelaufen, und nicht einmal hinter den dicksten Mauern der Folterkammern des Towers hatte ich weniger als drei solide Striche in der Netzanzeige. Aber, als ob es nicht genug wäre, hier in W. von jedem kulturellen, kulinarischen oder gesellschaftlichen Leben abgeschnitten zu sein, verhindern diese grauenhaften Bergmassive sowie die noch grauenhafteren Baumkrüppel die letzte, lebensnotwendige Verbindung zur Zivilisation, die dem IN DIE NATUR verbannten Großstädter bleibt. Es ist zum Heulen.
Erstmals, seit ich aufgewacht bin, melden sich die Hormone zurück. Guten Morgen, PMS, auch schon wach? Willkommen in der finsteren Waldeinsamkeit! Wenn das kein Grund für einen emotionalen Zusammenbruch ist, was dann? Herrgott noch mal, das darf doch nicht wahr sein, was soll der Scheiß?
Schön sprechen, Olivia!
Ich erkenne die Stimme sofort, es ist die ewig pikierte, immer obergescheite und sich verlässlich in den dümmsten Momenten zu Wort meldende Vernunftstimme, die irgendwo rechts hinten in meinem Hirn residiert und sich seit einiger Zeit immer rücksichtsloser in meine Angelegenheiten mischt. Ich nenne sie Motzmarie.
Fluchen wird dich hier auch nicht rausbringen, meine Liebe. Also reiß dich ein einziges Mal zusammen und denk nach. Denk nach!
Typisch Motzmarie, immer vernünftig, immer praktisch, bloß leider regelmäßig verschollen, wenn ich auf dem Weg in die Hölle bin. Erst wenn das Höllenfeuer mir schon den Allerwertesten versengt, ist sie plötzlich da, o wie wunderbar, und erklärt mir, was ich besser schon längst, besser nicht und vielleicht eher früher als später hätte tun sollen.
Du sei ganz still!, schimpfe ich jetzt zurück. Wo warst du vor drei Tagen, als ich von der Autobahn der Normalität abgezweigt bin? Wo warst du gestern, als ich meine Nase eindeutig zu tief in die sonderbare Geschichte dieses Dorfes gesteckt habe? Wo warst du, als ich dafür beinahe mit dem Leben bezahlt hätte und statt in die Arme von Gesetz und Ordnung in diesen undurchdringlichen Wald geflüchtet bin? Wo warst du da? Hinterher motzen, das ist deine Spezialität, nicht wahr? Aber bitte, bitte, hier ist der Plan: Ich werde mich in diesen Schuhen keinen Millimeter wegbewegen, ich bin ja nicht lebensmüde. Ich werde genau hier sitzen bleiben, bis der Suchtrupp mich findet, das ist schließlich nur eine Frage der Zeit.
Oder die Jäger.
Genau. Oder die Jä… Verdammt! Meine Verfolger von gestern Abend! Sind sie mir in den Wald gefolgt? Lauern sie bereits im Gebüsch? Wenn ich großes Glück habe, haben sie mich vielleicht vergessen.
Wohl kaum. Erinnerst du dich an ihre Blicke im Wirtshaus? An den Wahnsinn? Also los, mach, dass du deinen Allerwertesten hochkriegst!
Kommt überhaupt nicht infrage. Was soll das denn bringen? Wohin soll ich denn flüchten? Ich warte wie jede anständige Großstadtfrau auf meine heldenhaften Retter von der hiesigen
freiwilligen Feuerwehr oder - noch besser - von der Bergrettung!
Ach ja? Dann sag mir eines, Miss Ich-fahr-mal-schnell-in-die-Berge, wer, zum Teufel, soll dich denn suchen?
Ich zucke zusammen. Es steckt ein Funken Wahrheit in diesem Einwand, das muss ich zugeben. Urbane Singles wie ich leben mit dem ständigen Risiko, hinter der eigenen Wohnungstür zu verfaulen, weil sie nicht so akut vermisst werden, dass man ihnen das
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