Jagdzeit
Leben retten oder zumindest die Mumifizierung verhindern könnte. Nun ja, Mona, meine Agentin, wird mich vermissen, so in etwa in - äh - drei Wochen? Wenn meine monatliche Arbeitsfortschritts-Mail unterbleibt, wird sie, höchstwahrscheinlich, Nachforschungen anstellen. Meine Lektorin womöglich etwas früher.
Schließlich wollte man mir gerade ein rosarotes Cover für meinen ersten Roman ans Herz legen, was erhöhten Kommunikationsaufwand bedeutet. Rosarot, also wirklich! Als wäre ich ein Pastellfarbenmensch! Außerdem sollte ich längst den zweiten Roman in Arbeit haben, die Deadline dafür rückt ungemütlich näher, und mir will immer noch partout nichts Richtiges einfallen. Nur wirres Zeug. Wenn ich wenigstens einen blassen Schimmer hätte, was sich in diesem entsetzlichen Bergdorf abspielt, oder wenn sich an der Liebesfront etwas Berichtenswertes ereignen würde. Doch da sind nichts als ein paar vage Seiten Textverarbeitung, die inhaltlich nirgendwo hinführen, und eine chaotische Notizsammlung.
Es könnte also sein, dass man im Verlag davon ausgehen wird, ich hätte mich mit meinem halben Vorschuss nach Südamerika abgesetzt, und so in zehn Tagen per Steckbrief dort nach mir fahnden lässt.
Sorina wird wohl schon nächste Woche unruhig werden, wenn ich keinen aktuellen Bericht von meinem hirnrissigen Liebesabenteuer hinter den sieben Bergen abliefere, die anderen Freunde viel später.
Meine spärliche Familie hat sich daran gewöhnt, äußerst unregelmäßig von mir zu hören, und wird sich in diesem Monat kaum Sorgen machen. Es sei denn, meine in ihrer Obhut befindliche Katze hinterlässt aus Protest unerfreuliche, weil stinkende Pfützen hinterm Sofa.
O Gott!
Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. Niemand, abgesehen von Sepp, dem Wirt und den Dorfbewohnern, wird so bald nach mir suchen. Und darauf, ausgerechnet von Sepp oder seinen Kumpanen gefunden zu werden, kann ich nach den Erlebnissen des gestrigen Tages gerne verzichten. Auf den Schnüffler kann ich nach dem - äh - Geräusch (nicht daran denken!) wohl kaum mehr zählen, abgesehen davon, dass das ja überhaupt der Witz des Jahrtausends wäre: Der Schnüffler als einzige Überlebenschance. Ha!
Ein Königreich für ein Aspirin! Mein Knie tut wirklich ziemlich weh, und dank der blöden Frau Motzmarie schließt mein Kopf sich dem bereitwillig an. Solidarität waidwunder Körperteile. Auch das Ziehen in meinen weiblichen Innereien nimmt beunruhigende Ausmaße an. Das fehlte mir gerade noch, hier, mitten im Wald. Nicht vor morgen, denke ich beschwörend. Laut Kalender bin ich erst morgen dran, und nach meinem Zyklus kann man für gewöhnlich die Uhr stellen.
Nun gut. Vorläufig kein Suchtrupp, keine braun gebrannten Bergrettungsjungs, keine Polizei, nicht mal der rosarote Panther.
Ich bin auf mich allein gestellt, ein Zustand, an den ich mich mittlerweile gewöhnt haben sollte.
»Nur du und ich, werte Motzmarie!«, knurre ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. Jetzt heißt es: Konzentration.
Das Beste wird sein, erst einmal die nähere Umgebung abzulaufen, das Handy im Blick. Vermutlich hocke ich nur mitten in einem Funkloch, und zwanzig, höchstens dreißig Meter weiter drüben habe ich wieder ein Netz, und der Spuk ist zu Ende. Hundertprozentig!
Vorsichtig, um nicht wieder zu stürzen, rapple ich mich vom Waldboden auf. Warum, zum Teufel, muss es in der NATUR so dreckig sein? Blätter, braune Nadeln, feuchter Klee, schäbige Rinde, schleimiges Moos, Zweige, Zapfen und weit und breit kein Staubsauger. Nicht einmal eine anständige Kleiderbürste.
Herrje! Diese Hose in der raren, schwer aufzutreibenden Größe 40 extra kurz von Orsay ist ohne Zweifel ein Fall für den Müll. Gemeinheit!
In dem Moment raschelt es hinter mir im Gebüsch. Instinktiv halte ich den Atem an und versuche, kein Geräusch zu machen. Was kann das sein? Werde ich immer noch verfolgt? Hat mich das neongraue Auge wieder gefunden? Mein Herz rast, während ich mich langsam in die Richtung des Raschelns drehe. Nichts. Ob jemand hinter einem Baum steht und eine Pistole auf mich richtet?
»Ha… ha… hallo?«, frage ich zaghaft und mache einen vorsichtigen Schritt. Ich trete auf einen Zweig, der knackend zerbricht. Sekunden später flattert ein Vogel von einem Ast auf und verschwindet mit einem neuerlichen Rascheln im Blätterdach.
Ich sollte beruhigt sein, doch Tiere mit Flügeln stehen auf meiner persönlichen Liste unangenehmer Zeitgenossen ziemlich
weit oben.
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