Jagdzeit
Abschiedsbrief. Ihre Mutter hat Wally geheißen. Wally Berger. Sie ist abgehauen, als ihre Tochter zehn Jahre alt war, spurlos verschwunden, Thereses Vater hat dann wohl wieder geheiratet. Steht alles in dem Brief und noch einiges mehr, aber ich denke, das geht uns nichts an. Nur die Bitte an ihre Tochter,
die Jacke und die Dose als Andenken an den Großvater aufzubewahren.«
Wir sehen uns an und schweigen beide. Ich wünschte, das Neonlicht im Zimmer wäre weniger grell, zumal es draußen vor den Fenstern zu dämmern beginnt. Dämmerung hat auch Vorteile. Nur das Mondlicht ist besser. Eine sonderbare Stille herrscht im Krankenzimmer, die er irgendwann bricht.
»Wie die Sachen wohl zur Familie gelangt sind?«
»Wer weiß? Ein gnädiger Jäger? Oder ein gutes Versteck im Wald? Der ist ziemlich abwechslungsreich in dieser Gegend.«
Er nickt.
»Das ist denkbar, ja. Im Wald gibt es viele Verstecke.«
»Hören Sie, Herr Alt, es tut mir leid, dass ich mich die letzten Tage so beschissen benommen habe. Anscheinend verdanke ich Ihnen tatsächlich mein Leben. Aber, hey, wenn Sie darauf aus sind, zwecks Tarnung Menschen zu verschrecken, dann sind Sie echt gut darin.«
Er lächelt müde.
»Das ist keineswegs nur Tarnung. Ich arbeite eben am liebsten allein. Sozialkontakte sind nicht mein Spezialgebiet, noch nie gewesen. Aber auch ich muss mich entschuldigen.«
Erwartungsvoll sehe ich ihn an. Aus unerfindlichen Gründen klopft mein Herz schneller. Das müssen die Medikamente sein, mit denen ich bestimmt vollgestopft bin.
»Ich habe Sie unterschätzt. Sie sind eine Meisterin in der Kunst, andere so lange vor den Kopf zu stoßen, bis Sie niemand mehr ernst nimmt mit Ihrer blasierten Stöckelschuhmentalität. Dann schlägt Ihre Stunde, dann kommt Ihnen sogar der Zufall zu Hilfe oder unverschämtes Glück. Und, tada, Sie lösen komplizierteste Fälle. Ich gratuliere.«
Mir ist sein Sarkasmus nicht entgangen, doch statt der üblichen Wut im Bauch fühle ich dort ein vorsichtiges Flattern. Das darf doch nicht wahr sein! Warum immer ich?
»Herr Alt, das war nur fair, machen Sie sich nur lustig über mich. Ich kann auch einstecken, kein Problem. Darf ich trotzdem die Geschichte zu Ende hören? Ich glaube, wir waren noch nicht ganz am Ende. Verbindungen herstellen, das ist ja wohl Ihr Spezialgebiet. Also bitte, überzeugen Sie mich, Herr Detektiv . Wie kommen wir vom lebensmüden Gendarmen zum vergifteten Kuchen?«
Er zögert. Doch schließlich trifft auch er eine Entscheidung.
»Im zweiten verschollenen Kapitel der Ortschronik schreibt Mimmer von einer besonderen Substanz. Ein Fremder hat sie den Dorfbewohnern auf der Durchreise verkauft. Ein kleiner, rothaariger Mann mit umso größerem Auftreten. Das war vor langer, langer Zeit, als die Wissenschaft der Alchemie und die Suche nach dem Stein der Weisen gerade auf dem Höhepunkt waren.«
»Der Stein der Weisen? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«
»Ja, genau, Stein der Weisen, Suche nach dem ewigen Leben, der alte Menschheitstraum.«
»Herr Alt, ich habe meinen Harry Potter gelesen. Aber was soll der Stein der Weisen in einem Kaff in den Bergen Salzburgs?«
»Nun, auch hier wollte man den Tod hinauszögern, das Alter erträglicher machen, das unnatürlich reiche Leben dieses glückseligen Bergdorfes so lange wie möglich genießen.«
Gespannt starre ich ihn an. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet.
»Das Dorfgeheimnis ist nichts anderes als ein Pulver namens Hüttenrauch. Eine tägliche Dosis davon hat jede Menge positive Effekte auf die Gesundheit. Unter anderem wird das Leben unnatürlich verlängert. Ich habe recherchiert, während Sie geschlafen haben. Dies gibt es tatsächlich, vielmehr gab es das im vorigen Jahrhundert in einigen steirischen Gebieten. Man nennt es Arsenikessen.«
»Arsenik!« Ich starre ihn an.
»Ja, Sie sehen das ganz richtig. Hüttenrauch ist ein anderer Name für Arsen. Man hat Ihnen eine tödliche Dosis davon über den Kuchen gekippt. Ein Wunder, dass Sie das überlebt haben. Sarah und die anderen Kinder, die das Gift in die Finger bekommen haben, hatten weniger Glück. Erst ab einem Alter von drei, vier Jahren verträgt es der Körper, und selbst dann ist die Höhe der Dosis ein Hasardspiel.«
Er hat einen so verbitterten Gesichtsausdruck, dass ich mich fast nicht traue, die Frage zu stellen.
»Äh, Herr Alt, hm, was haben denn wir mit all dem zu tun? Warum wollte man mich vergiften?«
»Sie waren ein Eindringling, ein
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