Jagdzeit
Kaminfeuerrauch, Regen, blühende Birke. Mein Kopf wird federleicht. Natürlich, natürlich!
Die Tür öffnet sich einen Spalt, der »Polizist« hebt bedeutungsvoll einen Finger, verschwindet aber sofort wieder, dümmlich grinsend, als er uns sieht. Augenblicklich löst Alt sich von mir und will fort. Ich halte ihn am Jackett fest.
»Was war das gerade?«
»Entschuldigung. Tarnung. Dafür haben Sie als Schriftstellerin hoffentlich Verständnis. Dramatische Situationen verlangen dramatische Einfälle.«
Ich packe ihn am Kragen, ziehe ihn zu mir herab und küsse ihn meinerseits. Liebe oder Tod. Er wehrt sich nicht, wirft aber einen gehetzten Blick zur Tür.
»Ich muss wirklich …«
»Gleich, Herr Alt, gleich. Wissen Sie, Tarnung sollte immer absolut realistisch sein. Große Schriftstellerehrensache. Nur eine Kleinigkeit: Warum haben Sie mich wie eine Blöde durch den Wald irren lassen?«
Er schaut verdutzt.
»Das habe ich nicht. Sie waren nie im Wald.«
»Wie - ich war nie im Wald? Und der Wolf? Die Hütte? Die Jäger?«
Er seufzt.
»Ich bin Ihrem Absatzgeklapper nachgelaufen. Es war fast dunkel, aber Sie waren nicht zu überhören. Am Waldrand habe ich Sie eingeholt, dort sind Sie zusammengeklappt. Ich habe Sie aus dem Ort rausgebracht, zur Hauptstraße und von dort den Krankenwagen gerufen.«
Ich schlage mir mit der Handfläche auf die Stirn.
»Ich war nie im Wald?«
»Nein.«
Er hat die Gelegenheit genutzt und sich losgemacht. Ohne eine Sekunde zu zögern, öffnet er das Fenster und klettert aufs Fensterbrett.
»Was haben Sie vor?«
Er lächelt.
»Erster Stock, kein Problem. Danke für - für alles, Sie würden einen guten Detektiv abgeben. Ich bin zuversichtlich, dass dieser Fall nun gelöst werden kann. Sie sind klüger, als Sie denken. Passen Sie auf sich auf. Sie sollten nicht immer alles essen, was man Ihnen serviert. Leben Sie wohl.«
Mit einem Satz springt er geschmeidig (wie ein Wolf!) aus dem Fenster und ist verschwunden. Gehorsam drücke ich den Knopf, um die Schwester zu rufen.
Kein Wald also, nichts als ein besonders lebhafter Arsenrausch. Eigentlich sollte mich diese Tatsache beruhigen, da mich so einiges, was mir in den letzten vierundzwanzig Stunden offenbar nicht zugestoßen ist, stark an der Funktionstüchtigkeit meines Verstandes zweifeln ließ. Andererseits bedeutet das auch, dass ich kein bisschen schlauer bin als vorher. Oder inspirierter. Verdammt! Das Verrückte ist, ich schmecke noch den Geschmack des Honigmets am Gaumen, höre den Wolfsatem. Den vor allem …
Die Geschichte entfaltet sich in meinem Kopf, die Teile fügen sich zusammen, und ich bin mir plötzlich ganz sicher, dass die Deadline kein Problem mehr ist. Der erste und der letzte Satz, denke ich, wenn man die hat, dann ist alles dazwischen kein Problem.
Die Jagd hat begonnen!
Mein Computer! Ich muss mir dringend meinen Computer bringen lassen! Und meine Notizen! Das Frissmeinnicht in der Dose, Sarahs Tod, der Gendarm auf der Flucht, die Wirtin im Zwiespalt.
Doch, bestimmt, ich habe etwas getrunken, das mich alles klarer sehen lässt. Und ich hatte etwas in der Hand. Ich betrachte das Muster, das blass, aber dennoch in meinem Handteller erkennbar ist, begreife und grinse selig vor mich hin. Der Wald! Der Kuchen! Das ist die Lösung, natürlich, der Kauz hat alles richtig vorhergesagt! Etwas gewonnen, etwas verloren. Unendlich blind gewesen. Der Weg selbst ist das Ziel! Er war immer schon ein Teil von mir. Wir haben alle unsere großen Sehnsüchte und es liegt an uns, den Weg zu ihrer Erfüllung zu finden. Erst wenn du bereit bist, etwas zu erzählen, wird die Inspiration dich finden.
In diesem Moment spüre ich ein altbekanntes Ziehen in meinen Eingeweiden. Draußen vor dem offenen Fenster ist der Vollmond aufgegangen, doch dieses Mal macht es mir nichts aus, dieses Mal begrüße ich ihn mit lachenden Augen, lachendem Mund und lachendem Herz. Die neunte Nacht! Irgendwo heult der freie Wolf zum Abendhimmel hinauf, und ich bin mir ganz sicher, dass sich unsere Wege wieder kreuzen werden, ob mit Tarnung oder ohne. Es ist Bestimmung, hat er gesagt.
»Ja, bitte? Sie haben geläutet?«
Die Schwester steht in der Tür zu meinem Zimmer und sieht mich geschäftig an.
»Ja, das habe ich. Hätten Sie einen Tampon für mich, ich glaube, ich bekomme gerade meine Tage.«
Die Schwester eilt davon.
Von den Jägern ist keine Spur mehr zu sehen.
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