Jagdzeit
Wolf.«
Ich zucke zusammen.
»Als Wolfsjagd bezeichnen die es im Dorf, wenn jemand ihr Geheimnis entdeckt. Schutz der Dorfgemeinschaft nennen sie das. Ich sage Mord dazu. Sie sollten dem Dorfgott geopfert werden.«
»Der Dorfgott ist das Arsen, nicht wahr? Sie können nicht mehr ohne leben. So wie der Waldkauz nicht ohne den Wein.«
»Wie bitte?«
»Nicht so wichtig. Warum nicht Sie?«
»Ich?«
»Warum wurden Sie nicht schon viel früher vergiftet? Sie waren doch die weit größere Gefahr.«
Er fährt sich gedankenverloren über die Bartstoppeln.
»Oh, sie haben es versucht, ziemlich schnell. Aber ich esse nie etwas, bei dessen Zubereitung ich nicht zusehen kann, und ich trinke nur aus originalverschlossenen Gefäßen.«
»Ist das nicht«, ich suche nach dem Wort, »ein klein wenig paranoid?«
»Nicht in meinem Beruf.«
Ich nicke.
»Apropos, eine Frage noch, aus rein professioneller Neugier: Was hat Sie eigentlich nach Salzburg geführt? Ich habe recherchiert, Sie sind Schriftstellerin. Arbeiten Sie an einer Story?«
»Recherchiert, aha. Kennen Sie jetzt auch mein Verkehrsstrafenregister?«
»Selbstverständlich. Sie sollten damit anfangen, sich an Dreißigerzonenbeschränkungen zu halten …«
»Mein Tacho beginnt erst bei fünfundvierzig zu zählen.«
»… und sich anschnallen!«
»Ich habe eine Gurtphobie.«
»Verstehe. Aber Sie lenken ab.«
Was für ein Detektivklischee.
»Sagen wir es so: Mich hat nichts von Bedeutung hergeführt, nur ein privater Fehlschlag ungeahnten Ausmaßes, der mich wieder einmal in meiner Internet- sowie Männerskepsis bestätigt hat.«
Er fragt nicht weiter. Etwas liegt in der Luft zwischen uns. Selbst der Staub im Neonlicht fährt auf Zickzackkurs, sobald er in den leeren Zwischenraum fliegt, der seine und meine Welt trennt. Wie hat er es genannt? Individualdistanz. Hier sind wir,
zwei Wesen mit Berührungsphobie, jeder in seiner Sauerstoffglocke. Was wäre, wenn …
»Herr Alt, darf ich das Bild noch einmal sehen?«
»Welches Bild?«
»Das, das Sie am ersten Abend von mir gezeichnet haben.« Er holt seinen Notizblock aus der Innentasche seines Jacketts und reicht ihn mir, aufgeschlagen. Wie schnell er die Seite findet. Ich überlege, ob ich wie zufällig seine Hand berühren soll, wenn ich den Block nehme, doch ich lasse es bleiben. Ich studiere die Zeichnung gründlich, bevor ich ihm den Block zurückgebe.
»Sie sind ein Künstler. Warum arbeiten Sie als Detektiv?«
»Ich hasse Verbrechen.«
Das ist keine sehr befriedigende Antwort, und ich entnehme seinem verschlossenen Gesichtsausdruck, dass ich nicht mehr zu hören bekommen werde, es sei denn, ich schaffe es, meinen Finger exakt auf die richtige Stelle zu legen. Und das tue ich. Erst den Finger, dann die ganze Hand. Auf seine Hand. Er zuckt, zieht sie aber nicht zurück. Fast erwarte ich weiches Fell, doch da ist nur Haut, warme, zarte Künstlerhandhaut.
»Und jetzt?«
Berührung stellt Beziehung her, positiv oder negativ, sie sorgt für Nachwuchs oder Streit, Liebe oder Tod, denke ich.
Er sieht mir in die Augen, weicht dem Blick nicht aus, der eindeutig zu lange dauert, doch er missversteht die Frage absichtlich.
»Keine Ahnung. Es gibt keinen Beweis, insofern ist meine Mission nicht erfolgreich gewesen. Für eine Exhumierung von Sarah hätte ich mehr gebraucht. Für eine Untersuchung durch den Staatsanwalt erst recht. Die Dokumente Mimmers sind bei
meiner Auftraggeberin in sicherer Verwahrung, doch es ist sehr fraglich, ob diese alten Aufzeichnungen etwas bewirken. In Ihrem Magen wiederum war Mohnkuchen und Arsen, aber offensichtlich war das alles schon halb verdaut, seltsam in der kurzen Zeit, wodurch man keine eindeutige Verbindung herstellen kann. Ich bin mir sicher, Sepp und die anderen finden eine Ausrede. Der Dorfarzt, der Dorfgendarm, der Bürgermeister, alle stecken mit drin. Die Leute solcher Orte sind auf Leben und Tod miteinander verschworen. Wenn ich nur etwas in der Hand hätte«, sagt er frustriert und betrachtet meine Hand, die noch immer auf der seinen liegt.
»Zum Beispiel ein Stück Kuchen mit Arsen darauf?«
Seine Augen funkeln hoffnungsvoll.
»Zum Beispiel. Oder wenigstens die Dose. Sie haben nicht zufällig die Dose eingesteckt?«
»Nein. Die Dose ist unter den Dielen geblieben. Aus Pietät.« Er zieht seine Hand unter meiner weg, um den neuerlichen Versuch zu starten, die widerspenstigen Haarsträhnen aus der Stirn zu wischen.
»Aber ich habe den
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