Jagdzeit
seine Heimat gezogen, ein kleines Bergdorf im Bundesland Salzburg. Kein Jahr später war Anita schwanger und hat …«
»Neun Monate später?«
Er konnte eine leichte Ungeduld nur schwer unterdrücken. Das war sein größtes Problem. Menschen machten ihn meistens ungeduldig.
»… neun Monate später Sarah zur Welt gebracht. Schon bei meinem ersten Besuch dort ist mir aufgefallen, dass die Dorfbewohner ein sonderbares Verhalten an den Tag legten, ganz allgemein, aber speziell in Bezug auf kleine Kinder. Sie behandelten sie, wie soll ich sagen, nicht anders als ihr Geflügel oder die Hofhunde. Auch um die Taufe kümmerte sich niemand. Es war, als ob keiner eine Bindung zu Sarah aufbauen wollte.«
Sie schwieg nachdenklich, presste die Lippen aufeinander und schob das immer noch volle Wasserglas ein Stück zur Seite.
»Anita irritierte dieses Verhalten, doch sie war noch zu jung, um sich der Übermacht der Verwandtschaft ihres Mannes entgegenzustellen. Also akzeptierte sie es stillschweigend, auch wenn ihr Mann, Josef, immer öfter einen über den Durst trank,
selten daheim war und niemand ihr dort in der Einöde half. Sie rief mich oft an, aber mir war es durch diverse berufliche Verpflichtungen nicht möglich, sie häufig zu besuchen.«
Adrian seufzte. Alkoholismus in der Familie. Er verachtete nichts so sehr wie Rauschmittel. Menschen, die die Kontrolle verloren, waren ihm ein Rätsel. Kontrolle war essenziell. Lebensnotwendig.
»Und der Fall?«
Die Junihitze draußen und der zunehmende Mond machten ihm zu schaffen, ebenso die regelmäßigen Albträume. Nacht für Nacht lief er im Traum durch ein finsteres Dickicht, hörte Schritte hinter sich und fand keine Ruhe, bis der Mond außer Sicht war. Der entsetzliche Mond. Mit schmerzendem Kopf fiel er dann endlich in einen unruhigen Halbschlaf, der keine richtige Erholung brachte. Der fehlende Schlaf führte dazu, dass er rastlos wurde, fahrig, ungeduldig, unfähig, lange still zu sitzen. Deshalb, womöglich, fiel sein Einwurf schärfer aus als sonst.
»Der Fall, Herr Alt, ist folgender: Kurz nach ihrem zweiten Geburtstag ist Sarah gestorben. Ich war an dem Tag dort, habe ihr Geschenke gebracht, habe versucht, mit ihren Eltern zu sprechen, und sah die kleine Leiche. Es war ein ganz und gar irritierender Anblick. Etwas an ihrem Tod war faul, und es war, das können Sie mir glauben, nicht die Erde, in der man sie mit absurder Hast verscharrt hat.«
Adrian Alt fiel auf, dass Selene sich wie jemand ausdrückte, dessen Muttersprache eigentlich eine andere war, auch wenn sie keinen Akzent hatte, doch die Worte, die sie wählte, sowie die gesamte Satzkonstruktion ließen auf eine andere Herkunft schließen.
»Kann es sein, dass Sie britische Wurzeln haben?«
Sie sah ihn überrascht an, was er befriedigt zur Kenntnis nahm. Ja, er war gut in seinem Job, vielleicht nicht glücklich oder erfüllt, aber auf jeden Fall gut.
»Das ist korrekt, auch wenn es mir schleierhaft ist, woher Sie das wissen können.«
»Nur so eine vage Vermutung.«
Er lächelte innerlich.
»Nun, wie auch immer, was ich von Ihnen möchte, sind erstens Informationen über den Ort, die Bewohner, die Geschichte, alles, was Sie herausfinden können. Und zweitens«, sie beugte sich vor und senkte die Stimme, »sammeln Sie für mich Indizien, Beweise, alles, was notwendig ist, um eine Exhumierung Sarahs zu veranlassen! Bringen Sie mir das, was ihren Tod verursacht hat! Bringen Sie mir etwas !«
Er studierte ihre hart gewordenen Gesichtszüge.
»Moment. Sprechen wir hier von Mord? Ich muss Sie an dieser Stelle darauf hinweisen, dass Sie sich besser an die Polizei wenden, wenn es um …«
»Herr Alt, ich war bereits bei der Polizei. Die örtlichen Behörden haben plötzlichen Herzstillstand als Todesursache anerkannt und sind nicht bereit, weitere Schritte einzuleiten.«
Adrian rieb sich seine Schläfen.
»Wenn die Behörden das so akzeptieren, was genau wollen Sie dann von mir? Ich bin nicht Sherlock Holmes, falls Sie sich etwas in der Art vorstellen.«
Sie griff nach ihrer Handtasche und zog ein abgegriffenes Foto sowie ein dicht beschriebenes Blatt Papier heraus und legte beides umgedreht vor ihm auf den Tisch. Anschließend ballte sie die Hand zur Faust und blickte ihn aus kalten Teichaugen an.
»Nehmen Sie das Foto, und sehen Sie es sich gut an, Herr Alt. Sie können sich nicht vorstellen, unter welchen Schwierigkeiten es mir gelungen ist, es überhaupt aufzunehmen und aus dem Ort zu
Weitere Kostenlose Bücher