Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman

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schmuggeln. Etwas ist dort nicht in Ordnung, und ich bitte Sie herauszufinden, was. Seien Sie vorsichtig, die Bewohner haben es nicht gern, wenn man sich in ihre Angelegenheiten mischt. Auf dem Zettel finden Sie alle weiteren Informationen: Lage des Ortes, Anreise, Unterkunftsmöglichkeit, Namen und Adressen von involvierten Einheimischen. Auf der Rückseite steht außerdem meine Telefonnummer für den Fall, dass Sie sich entschließen, den Auftrag anzunehmen.«
    Sie erhob sich, streifte ihr Kostüm glatt und ging zur Tür, wo sie stehen blieb und sich noch einmal umdrehte. Er war ebenfalls aufgestanden, mit der Absicht, ihr zur Tür zu folgen, doch ihr Gesichtsausdruck ließ ihn hinter dem Schreibtisch verharren.
    »Ich rechne mit Ihnen, Herr Alt. Sie werden mit der Entlohnung zufrieden sein. Außerdem bin ich Mitglied in einer exklusiven Vereinigung, die ihren Sitz in London hat und die Ihnen bestimmt noch den einen oder anderen Dienst erweisen kann. Eine Hand wäscht die andere, vergessen Sie das nicht. Wir expandieren gerade, unsere Verbindungen sind international, unsere Geschäfte zukunftsweisend. Kein Wunsch, den wir Ihnen nicht erfüllen können! Lassen Sie mich wissen, was Sie denken.«
    Sie wendete sich ab, hielt aber noch einmal inne.
    »Ich empfehle Johanniskrauttee.«
    »Wie bitte?«
    »Gegen die Müdigkeit. Das ist normal. Heute ist Litha, die Sommersonnenwende. Die kürzeste Nacht. Viele Menschen« - dabei sah sie ihn lange an - »reagieren empfindlich darauf.«

    Ohne sich weiter aufzuhalten, trat sie auf den Gang hinaus, schloss die Tür hinter sich und verschwand mit lauten, energischen Schritten Richtung Aufzug.
    Adrian Alt ließ sich wieder in seinen Sessel fallen, verschränkte die Hände unterm Kinn und starrte abwesend auf die Papiere, die vor ihm lagen. Er drehte Selenes Zettel um und las die Buchstaben mehrmals, ehe er die Worte begriff.
    »Selene Green, European WWS, Abteilung Internationale Kontakte. London, UK.«
    Er seufzte. Um was für eine Organisation es sich bei WWS auch handeln mochte, anscheinend war die Frau eine bedeutende Persönlichkeit. Kein Wunsch, den wir Ihnen nicht erfüllen können . Große Worte, wenngleich er schon lange nicht mehr an solche Märchen glaubte. WWS. Eine exklusive Vereinigung.
    Leichtfertig abzulehnen war unmöglich, zumal ihn die Geschichte natürlich reizte. Warum auch nicht? Ein totes Kind, ein verschrobenes Bergdorf, ein Dorfgeheimnis, näher war er nie an seinen Prinzipien drangewesen. Viel zu viel Zeit seines Lebens hatte er damit vergeudet, scheidungswilligen Verehelichten Beweise für die Untreue des jeweiligen Partners zu liefern oder ausgerissene Jugendliche in schmierigen Diskotheken aufzutreiben und sie in ihre scheinheiligen Elternhäuser zurückzutransferieren. Dabei waren es die wirklichen Verbrechen, die er ablehnte, die Ungerechtigkeit, die er hasste und die ihn dazu gebracht hatte, das Jurastudium aufzugeben zugunsten von Freiheit und Isolation, beides Teile seines Lebens. Nach dem Wahnsinn der letzten Wochen täte ihm ein Ortswechsel außerdem bestimmt gut.
    Einer plötzlichen Eingebung folgend, griff er nach dem Foto, das die Frau neben den Zettel gelegt hatte. Ein Blick darauf
ließ ihn beinahe sein ohnehin dürftiges Frühstück erbrechen. Er sprang auf, eilte zum Waschbecken, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, studierte in dem fleckigen Spiegel gründlich die Linien um seine Augen und strich sich die Haare glatt. Johanniskrauttee, was für ein Unsinn! Als ob es für ihn irgendeine Art Frieden gäbe. Oder Absolution.
    Dann erst, noch blasser als sonst, wählte er die Nummer, die unter Selene Greens Namen stand. +44-2 07-4 94-23 25. Während er auf das Freizeichen wartete und auf die unvermeidliche Prozedur, die nun in Gang kommen würde, sah er immer wieder flüchtig zu der Fotografie hin, als zöge das Gesicht darauf seinen Blick magisch an.
    Sarahs Gesicht.
    Sarahs unnatürlich verfärbtes Gesicht mit dem weit aufgerissenen Mund.
    Als wäre ihr der Schrei im Hals stecken geblieben.

6 Weißt du zu ritzen?
    »Kuwitt!«
    Seit wann schreien Bäume Kuwitt? Oder, anders gefragt, seit wann schreien Bäume überhaupt? Verblüfft starre ich den Stamm an, an dem mein Handy abgeprallt ist. Nichts als braune Rinde, ein Stück weiter oben ein paar feine Zweige, dann dickere Äste, einer davon mit einer sonderbaren Wucherung, etwa dreißig Zentimeter hoch, die in der Mitte …
    Uaaaaaaah!
    Ein paar kugelrunde, dunkle Knopfaugen glotzen