Jagdzeit
wenn du mir die Richtung zeigst. Dieser Wald ist nicht unbewohnt, das weiß ich mit Sicherheit, hier muss es eine Hütte geben, und dorthin kann es ja wohl nicht so weit sein.«
»Huhu, weit ist es doch. Sehr weit. Den Weg aus dem Wald findet nicht jeder. Der Wald ist tief. Hinein ist leichter als hinaus. Folge den Wurzeln! Hick!«
Folge den Wurzeln! Mimmers Botschaft. Ich spüre ein Kribbeln in der Magengrube. Der Kauz weiß etwas. Ich will gerade zur nächsten Frage ansetzen, als sich die Kulleraugen wieder schließen. Ich habe so den Verdacht … Könnte es sein …?
Laut und deutlich räuspere ich mich, woraufhin der Kauz eines seiner beiden Sehorgane öffnet. Ich bilde mir ein, dass Eulen schlafen und dabei ein Auge geöffnet lassen können,
weshalb ich mir nicht sicher bin, ob meine Verzweiflung so richtig rüberkommt. PMS-Alarm! Zeit für ein wenig Drama, Baby! Zum Glück habe ich genügend Episoden von »Germany’s Next Topmodel« konsumiert. Ich probiere es mit einer Mischung aus Bruce und dieser unsäglichen, weinerlichen Brasilianerin.
»Oh, oh, oh, bitte, lieber, lieber Kauz, liebe Sibby, hilf mir! Ich habe weder das Outfit noch die Ausrüstung für ausgedehnte Waldspaziergänge. Außerdem steht meine berufliche Laufbahn gerade vor dem Aus, und ich sollte dringend an meinen Computer. Eine Toilette wäre allmählich auch bitter nötig. Und wenn mich die Jäger erwischen, ist sowieso Sense. Bitte, ich möchte nur zu einer Hütte, von wo aus ich Hilfe rufen kann, so ein Gebäude muss doch von der obersten Baumspitze aus zu sehen sein. Ich flehe dich an, schau für mich nach!«
Sibby plustert ihr Gefieder auf. Mein Mund ist trocken.
»Schuhu, das nützt sowieso nichts. Wege muss man selbst finden. Dem Schnabel nach. Wege führen oft genau in die andere Richtung. Es kommt immer darauf an, was du suchst.«
Was ich suche … Folge den Wurzeln. Erst Mimmers Botschaft, dann Sibbys Geschwätz. Was, wenn die Hütte längst mein einziges Ziel ist? Was, wenn ich mir in Wahrheit wünsche, die Quelle der Inspiration zu finden? Es geht nicht darum, lebend hier rauszukommen, es geht darum, hier die letzte Chance auf Rettung meiner Laufbahn zu nutzen. Ich muss zur Quelle. Führen mich all meine Unternehmungen deshalb tiefer in dieses Baumlabyrinth? Was hat der Wirt gesagt? Trinken. Wahrheit finden. Sind das nicht nur zwei verschiedene Bezeichnungen für ein und dieselbe Sache? Welches Geheimnis verbirgt dieser Wald?
»Sibby, du als langjährige - äh - Waldbewohnerin, was weißt du über die Hütte, die man angeblich findet, wenn man auf der Suche ist? Die Hütte mit den Tränken, meine ich, die Quelle? Gibt es die Quelle der Inspiration wirklich, oder ist sie nur ein Dorfmythos?«
Nun endlich öffnet der Kauz das zweite Auge wieder. Er starrt mich an, breitet schließlich die Flügel aus, flattert in wackeligem Sturzflug vom Baum und landet (uaaaaah!) auf meiner Schulter. Vogelnähe! Ich schlucke, um die Magensäure in meinem Mund zu verdünnen. Die Federn riechen übel, wecken böse Erinnerungen. Unangenehm bohren sich die Eulenkrallen in meine Haut. Woher kommt das starke Déjà-vu-Gefühl? Welcher Albtraum spielt sich hier mitten am helllichten Tag ab? Doch ich bin wach. Wach! Der Schnabel klackert an meinem Ohr, ehe ich einer Reihe hastig geflüsterter Laute Folgendes entnehmen kann:
»Meinst du die Hütte unter dem Ast des Baumes, dem man nicht ansieht, aus welcher Wurzel er spross?«
»Geht das, hm, genauer?«
»Eine Esche weiß ich, ein hoher Baum, nass vom Nebel. Davon kommt der Tau, der in die - hick - Täler fällt.«
Unglaublich, aber wahr. Das Tier hat eine Fahne, ganz eindeutig. Ein besoffener Waldkauz. Das wird ja immer schlimmer.
»Gut, ich verstehe, die Hütte steht unter einem großen Baum. Eine Esche, so weit, so gut. Doch wo ist der Baum?«
»Warum fragst du mich?«
»Wen soll ich denn sonst fragen? Meine Güte!«
»Viel weiß der Weise, sieht weit voraus.«
Ich stöhne.
»Eben. Genau deshalb frage ich ja! Tok, tok, jemand zu Hause?«
Sibby plustert das Gefieder auf, schüttelt sich, gähnt, würgt lauthals und spuckt einen unappetitlichen golfballgroßen Haufen auf den Boden.
Ekel schlägt als enorme Welle über mir zusammen.
»Igitt, kannst du nicht …«
Weiter komme ich nicht. Etwas passiert mit dem Tier, es streckt die Flügel aus, stößt sich von meiner Schulter ab und fliegt in engen Kreisen um meinen Kopf. Die putzigen Knopfaugen funkeln wie Diamanten, die Stimme
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