Jagdzeit
deutlich riechen, irgendetwas …
»Kinder und Greise.«
»Wie bitte?«
»Sehen Sie sich um! Auf diesem Friedhof gibt es fast nur Menschen, die entweder extrem früh oder extrem spät gestorben sind, kaum etwas dazwischen.«
Ich sah ihn an, als hätte er mir gerade erklärt, dass man rote und weiße Socken besser nicht zugleich wusch, weil man sonst rosafarbene erhielt.
»Nun, wir befinden uns in einem Bergdorf. Wenig Verkehrstote, gute Luft, viel Bewegung, was weiß ich? Das hat doch nichts zu bedeuten. Kinder sterben eben leicht an Krankheiten, und Menschen werden in so einer Umgebung alt. Punkt.«
»Sind Sie sich bewusst, von welchem Durchschnittstodesalter wir hier sprechen?«
Langsam wurde es mir zu blöd, mich mit diesem offensichtlichen Exzentriker mitten im Nieselregen auf dem Friedhof über Sterbedaten zu streiten.
»Hören Sie …«
»Siebenundneunzig.«
»Was?«
»Kaum jemand hier ist vor seinem neunzigsten Geburtstag gestorben, und fast die Hälfte ist über hundert Jahre alt geworden.«
Mir lief es eiskalt den Rücken runter.
»Das ist nicht möglich«, sagte ich tonlos.
»Dafür gibt es eine ungewöhnliche Häufung von Kindergräbern. Die meisten Kinder sind gleich im ersten oder zweiten Lebensjahr gestorben. Wie Sarah. Ausnahmen von der Regel sind fast nur Opfer des Zweiten Weltkrieges und ein paar Einzelfälle wie unser berühmter Inspektor Franz Berger. Glauben Sie mir, was auch immer die Menschen hier so alt werden lässt, das geht wohl kaum mit rechten Dingen zu.«
Ich starrte ihn an wie einen besonders ungewöhnlichen Mistkäfer. Mein ganzer Körper zitterte vor Kälte, Nässe und Wut. Jedes einzelne Härchen in meinem Nacken war aufgestellt. Selten hatte es mich so sehr danach verlangt, jemanden ins Gesicht zu schlagen, mitten auf die Nase. So leise und beherrscht, wie es mir unter diesen Umständen möglich war, sagte ich: »Und warum, Herr Alt, erzählen Sie das ausgerechnet mir? Sie haben gestern Abend sehr deutlich gemacht, was Sie über meine Essgewohnheiten denken, was - sehe ich das richtig? - den Schluss nahelegt, dass wir beide, Sie und ich, keinerlei Gemeinsamkeit haben als die, zufällig zur gleichen Zeit im gleichen Ort zu Gast zu sein.«
Er sah mich mit halb geöffnetem Mund an. Unsicherheit schwamm wie eine quietschgelbe Gummiente im schmutzigblauen Badewasser seiner Augen. Befriedigt nahm ich zur Kenntnis, dass er nicht zu wissen schien, wie ihm geschah. Gut so.
»Ich denke, da gibt es ein Missverständnis. Ich wollte …«
»Sie, Herr Alt«, fauchte ich, die Beherrschung nun komplett verlierend, »haben hier nichts weiter zu wollen. Ich wünsche Ihnen noch viel Vergnügen mit Ihren Leichen. Von mir aus graben Sie sich eine schöne tiefe Grube und legen sich dazu.
Ich für meinen Teil gehe jetzt zurück ins Warme, Trockene und werde anschließend bei einem ausgiebigen Mittagsmahl selbst entscheiden, was ich essen und trinken kann, ohne dass ausgerechnet Sie sich Sorgen um meine Figur machen müssten.«
Ich drehte mich um und stapfte, so graziös wie möglich, über die inzwischen schlammige Wiese zurück zum Kiesweg, wo ich wütend den Dreck von meinen Wildlederstiefeletten schüttelte. Na großartig, die waren endgültig ruiniert.
»Das haben Sie falsch verstanden«, rief er mir nach, »ich wollte Sie warnen. Passen Sie auf, was …«
Seine restlichen Worte gingen im einsetzenden Glockengeläut der Kirchturmglocke unter, was ich mit einem dreifachen Halleluja quittierte. Zwölf Uhr Mittag. Wie viel schlimmer konnte der Tag noch werden? Genau in dem Moment hörte ich das ersehnte Geräusch aus meiner Handtasche. Es piepste lautstark.
5 Mondaufgang
»Bitte, setzen Sie sich doch!«
Mit geübtem Blick hatte er die Frau analysiert, die ihm in seinem Büro gegenüberstand. Sie war vielleicht Mitte dreißig, trug ein teures mohnblumenrotes Kostüm, das ihre perfekten Kurven betonte, ohne zu viel zu enthüllen. Der Rock reichte bis knapp über die Knie, die Beine steckten trotz der sommerlichen Temperaturen in schimmernden Seidenstrümpfen, bestimmt die teure Marke von Palmers, womöglich Stay ups. Die farblich abgestimmten Pumps hatten spitze Bleistiftabsätze, die als Mordwerkzeug geeignet wären. Der Duft, den sie verströmte, war eine Mischung aus exquisitem Designerparfüm, herber Körpercreme und zu viel Haarspray, das ihre langen platinblonden Locken in eine malerische Form zwang. Ihr Make-up war eine Spur zu auffällig, ihr Lippenstift eine Nuance zu rot
Weitere Kostenlose Bücher