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Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
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Daumen, etwa Mitte bis Ende dreißig. Vielleicht auch knapp vierzig. Wären nicht die grauen Strähnen in seinen dunklen Haaren so auffällig gewesen, hätte ich ihn womöglich für nicht viel älter als mich gehalten. Er wirkte körperlich fit, wenn auch etwas mager, als würde er zu wenig schlafen und essen, was mich wieder an seinen charmanten Hinweis im Wirtshaus erinnerte. Ich sah ihn misstrauisch an.
    »Was tun Sie hier? Sind Sie Kaffzeichner oder so was Ähnliches?«
    »Nicht ganz.«
    »Sondern?«
    Er schien sich die Antwort gut zu überlegen, wobei er mit den Fingern über die Zeichnung fuhr, die Zeichnung eines Friedhofskreuzes, wie ich erkennen konnte.
    »Es ist besser, wenn Sie darüber nichts wissen. Sagen wir, ich bin ein stiller Beobachter.«
    Gegen Geheimnistuerei hatte ich immer schon eine Abneigung. Und dieser Mensch, Alt, wie auch immer, war der Inbegriff von Geheimnistuerei mit all seinem Herumgeschleiche,
Notizblockgezeichne und seiner Art, einem Frechheiten ins Gesicht zu sagen, als wären sie etwas ganz Alltägliches. Sepp, der Wirt, hatte schon recht, ein klassischer Fall von einem Schnüffler. Ich seufzte hörbar und missmutig.
    »Also gut, Herr Alt, können wir uns darauf einigen, dass hier jeder seiner Wege geht, was auch immer er hier zu suchen hat? Ich belästige Sie nicht, und Sie sprechen mich nicht mehr an. Wir tun einfach so, als wären wir uns nie begegnet, ist das möglich?«
    Er schüttelte bedauernd den Kopf, was für mich so unerwartet kam, dass ich starr vor Entrüstung vor ihm stehen blieb, statt, wie ich das eigentlich vorgehabt hatte, wirbelwindmäßig an ihm vorbeizurauschen.
    »Ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht versprechen. Aber bitte, kommen Sie doch kurz mit dort hinüber, ich will Ihnen etwas zeigen. Es dauert nur einen Augenblick.«
    Er ging zwischen den Gräbern hindurch ganz nach hinten zu den frischeren Grabstellen nahe der Mauer, mit fast raubtierhaften, weichen Bewegungen. Ich versuchte, ihm zu folgen, so gut es ging, doch das war nicht ganz einfach. Die dünnen Absätze meiner Stiefeletten sanken bei jedem Schritt im morastigen Boden ein, was meinen Zorn nicht gerade abkühlen ließ. Wie konnte er es wagen, was bildete er sich ein?
    »Hier«, rief er und winkte mich zu sich. Durch den Mund atmend, damit er nicht merkte, wie sehr ich keuchte, blieb ich mit verschränkten Armen neben ihm und vor einem einfachen weißen Holzkreuz stehen.
    »Also? Ich hab nämlich nicht den ganzen Tag Zeit.«
    Er sah mich sonderbar an.
    »Lesen Sie!«

    Ich beugte mich über das Grab zu der kleinen Tafel in der Mitte des Kreuzes.
    »Im liebevollen Andenken an Sarah, die am fünften März 2009 mit nur zwei Jahren von uns gegangen ist. Wir tragen sie immer … bla bla bla … Warum zeigen Sie mir so was?«
    Jetzt erst bemerkte ich auch den ungewöhnlichen Grabschmuck. Ein weißer Teddybär mit grüner Schleife und schwarzen Knopfäuglein lehnte am Kreuz. Davor baumelten in einer Vase Stoffdiddlmäuse mit Engelsflügeln (herrje!) an einem Gesteck aus lila-rosa Blütenzweigen, und drei verschiedene Grablichter brannten in schneeweißen Laternen.
    Mir war auf einmal ziemlich kalt, der feuchte Nebel über dem Ort schien mir unter die Jacke zu kriechen, und obendrein fing es auch noch an zu nieseln. Eine leichte Übelkeit im Magen machte mir zu schaffen, wahrscheinlich hatte ich die Dosis Weißmehl mit Fett vom Frühstück nicht vertragen. Ich wünschte mir auf einmal ganz dringend, in meinem muffigen, überheizten Zimmer zu sein. Ich könnte mich mit einem Buch ins Bett verkriechen, während ich auf die Antwort von meinem Herrn Lehrer wartete. Ich könnte sogar schreiben, etwas über einen Gendarmen und einen gemeinen Mörder mit Cordhut. Oder über ein totes Kind.
    »Zwei Jahre. Haben Sie zufällig die Jahreszahlen auf den Grabsteinen dieses Friedhofs beachtet?«
    »Natürlich habe ich sie beachtet. Geburtsjahr, Sterbejahr, manchmal ein genaues Datum, wie überall eben.«
    »Und?« Er sah mich gespannt an. »Was ist Ihnen aufgefallen?«
    »Aufgefallen? Wieso?«
    »Wenn Sie die Geburtsjahre und Sterbejahre betrachten, was fällt Ihnen hier auf?«

    Ich zuckte mit den Schultern. Die Sehnsucht nach dem Wirtshaus wurde übermächtig, zumal mir der sonderbare Glanz in Adrian Alts Augen unheimlich war. Etwas Animalisches steckte in diesem intensiven Blick, etwas, das mir überhaupt nicht gefiel. Wer war der Mensch, und was hatte er hier zu suchen? Irgendetwas stimmte nicht, das konnte ich

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