Jagdzeit
in ihrem sehr blassen Teint, doch abgesehen davon, dachte Adrian Alt, war sie eine bildschöne Frau. Eine, bei der man durchaus auf Ideen kommen konnte.
Einzig irritierendes Detail war der Schmuck, den sie um den Hals trug. Man hätte bei einer solchen Frau Perlen erwartet oder Brillanten, doch an einer schlichten Kette hing ein silberner Halbmond, der aus einem Esoterikgeschäft oder der Billigmodeschmuckabteilung einer Kaufhauskette stammen mochte.
Sie setzte sich mit einer einzigen eleganten Bewegung auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, wobei sie feminin die Beine übereinanderschlug, während er den Platz dahinter einnahm, zwei Gläser Wasser einschenkte und ihr eines davon reichte. Sie beobachtete den Vorgang, rührte ihr Glas jedoch nicht an. Er selbst trank seines mit wenigen Schlucken leer, verschränkte die Arme und lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück. Der Gästestuhl war ein wenig niedriger, mit Absicht, um dem Klienten das Gefühl zu vermitteln, einer Autorität gegenüberzusitzen. Doch dadurch, dass die Frau außergewöhnlich groß war und aufrecht dasaß, während er, für einen Mann ohnehin schmächtig gebaut, aus alter Gewohnheit den Rücken ein wenig krümmte, befanden sie sich auf Augenhöhe.
»Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
Adrian Alt überlegte, wie oft er diesen Satz bereits ausgesprochen hatte, kam aber zu keinem befriedigenden Ergebnis. Er betrieb sein Büro mittlerweile seit fast zehn Jahren. Menschen kamen, Menschen gingen, unmöglich, sie zu zählen. Seine Dienste waren gefragt, aber nur mäßig entlohnt. Wäre er Jurist geworden, wie sein verstorbener Vater es gewollt hatte, Rechtsanwalt wie sein Bruder André, wäre er mittlerweile reich und besäße eine schmucke Villa am Stadtrand, nicht eine schmuddelige Wohnung, die zugleich sein Büro war. Adrian Alt war Privatdetektiv.
»Nun, Herr Alt, ich hoffe, dass Sie mir behilflich sein können, immerhin werde ich Ihnen ja ein kleines Vermögen für Ihre Dienste bezahlen. Wie stehen Sie zu den Bergen?«
Ihre Stimme war glockenhell und voll Wärme, wie die Stimme der guten Fee in diesen Walt-Disney-Kindertrickfilmen, die am Sonntagvormittag im Fernsehen liefen. Er zögerte.
»Die Berge an sich? Keine Ahnung, ich bin im Flachland aufgewachsen und lebe seit zwanzig Jahren in der Großstadt, da habe ich mit Bergen relativ wenig Kontakt.«
Das war sogar noch untertrieben. Er mochte Berge nicht, weil man, wenn man hinaufstieg, weit, weit sehen konnte. Diese Weite bedrückte ihn. Er liebte Hochhäuser, die seine Welt begrenzten, ebenso wie die Menschenmassen, die einen ungestört allein sein ließen. Er war ein klassisches Großstadttier.
»Das wird sich ändern. Wenn Sie den Auftrag übernehmen, werden Sie einige Zeit in einem winzigen Bergdorf verbringen, das bitte ich Sie zu bedenken. Bergdörfer haben eigene Gesetze, Bergbewohner sind ein eigenes Volk. Doch ich habe Sie ausgesucht, weil man mir versichert hat, dass Sie im Umgang mit Gesetzen äußerst flexibel sind, ist das korrekt?«
Ausgesucht. Er sah ihr in die Augen und überlegte, warum er sie im ersten Moment für blau gehalten hatte. Sie hatten eine Farbe, die an dunkelgrünes Teichwasser erinnerte.
»So sagt man«, antwortete er. »Aber wollen Sie mir nicht erst erklären, um was für einen Auftrag es sich handelt, Frau …«
»Selene.«
»Selene, in Ordnung. Dann kann ich besser beurteilen, ob die Angelegenheit für mich infrage kommt.«
Adrian hatte das große Glück, sich dank einer umfangreichen sowie einigermaßen wohlhabenden Stammklientel seine Aufträge aussuchen zu können. Er arbeitete aus Prinzip allein und stets gewissenhaft. Frauen wie Selene hatten meist reiche, untreue Ehemänner, denen es nachzustellen galt. Nur ein leichtes Kribbeln in seiner Magengrube ließ ihn vermuten, dass es hier um etwas anderes ging.
»Oh, das wird sie.« Sie zupfte ein paar rötliche Katzenhaare
von ihren Kostümärmeln. »Der Fall ist äußerst interessant und ebenso kompliziert, aber man sagte mir, Sie liebten Herausforderungen.«
»Ich wüsste gerne mehr über Ihren Informanten!«
Sie verzog den Mund zu einem Lächeln. Hätte dieses Lächeln ihre Augen erreicht, so wären, vermutete Adrian, dutzendweise Männer daran zugrunde gegangen.
»Also, hören Sie gut zu. Vor bald fünf Jahren hat meine ältere Schwester Anita, die ich sehr liebe, einen Mann kennengelernt. Wie solche Dinge nun einmal unvermeidlich laufen, haben die beiden geheiratet und sind in
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