Jagdzeit
ansehnlichen Damenbart.
»S-Si-Sibby?«
Ich denke, die Augen sind es, die mir diese plötzliche Erkenntnis bescheren. Die Waldkauzaugen im Gesicht der alten Frau, die nun den Kopf in den Nacken legt und lauthals lacht. Es ist kein Altfrauenlachen, sondern ein grollender, aus der Tiefe kommender Ton, der die Äste rundum in Bewegung versetzt.
»Gut geraten, mein Kind! Tatsächlich sind wir uns schon begegnet. Tagsüber sitze ich als Nachteule auf den Bäumen des Waldes, nachts koche ich Met in meiner Hütte. Doch die Eule
besitzt ein Eigenleben, darum kann ich dir nur wenig über sie berichten. Sie gehört zu mir und doch auch nicht, ist Teil des Ganzen, verstehst du?«
Die alte Frau Wurd stützt ihr spitzes Kinn auf ihren Stock und lächelt mich freundlich an. Ich störe mich nicht daran, dass sie mich duzt, im Gegenteil, es fühlt sich völlig normal an. Sie deutet einladend auf die Tür der Hütte, die einen Spalt offen steht. Ich kann das Knistern des Feuers im Inneren hören, ein wohliges Geräusch, das das Walddunkel hinter mir zu einer fernen Erinnerung macht. Doch da ist noch ein anderer Klang, der weit weniger wohlige Assoziationen hervorruft, eine Art … Blubbern.
»Bitte, tritt ein, mein Kind. Bestimmt bist du hungrig und durstig nach dem langen, beschwerlichen Weg. Ich will dir einen Becher Honigwein zu kosten geben, sobald er heiß ist. Der Trank köchelt schon über dem Feuer. Folge mir!«
Zögernd komme ich der Aufforderung der Alten nach, den Blick starr auf ihren Buckel gerichtet. Mir fällt keine höfliche Begründung ein, ihre Einladung auszuschlagen. Ich kann schließlich schlecht von ihr verlangen, dass sie mich sofort zu der Quelle führt, zumal ich nicht weiß, was sie mit der Quelle zu tun hat. Es ist Nacht, ich brauche dringend einen Tampon, und was könnte klüger sein, als eine massive Holztür zwischen mich und den Wolf zu bringen? Andererseits befinde ich mich, wenn ich die Schwelle erst einmal überschritten habe, in der Gewalt einer waschechten Knusperhexe, so viel steht fest.
Ach ja? Und woher willst du DAS so genau wissen? Hast du die Weisheit mit dem Silberlöffelchen gefressen oder schon aus der Mutterbrust genuckelt? Gerade sagst du noch, es gibt keine Hexen, und plötzlich beschuldigst du die alte Dame der Zauberei. Gegen dich
war ja die Inquisition ein Springreitturnier! Die reizende Lady hier ist womöglich im Besitz eines funktionierenden Telefons, und du kannst ruck, zuck in die Zivilisation zurück.
Ich ignoriere Motzmarie. Das mag ja alles sein, doch ich habe so meine Bedenken, denn ich träume häufig von Hexen. Nicht ab und zu oder nur mit gewisser Regelmäßigkeit, sondern oft, und im letzten Jahr eigentlich immer. Schon als Kind habe ich mich im Traum im Wald verirrt und bin der Vogelhexe begegnet. Später, viel später, sind daraus äußerst realistische Fantasiereisen geworden, in denen aus einer Hexe eine ganze moderne GmbH geworden ist, die ihren Sitz in London hat.
Man könnte auch sagen, dass es wieder und wieder der gleiche Traum ist, dessen beständiges Grauen darin besteht, dass ich am Ende erbittert darum kämpfe aufzuwachen, während rund um mich, in einem riesigen, vieleckigen Saal, die Hexen einen Kreis bilden. Sie kommen nicht näher, doch egal, welcher ich mich zuwende, sie starren mich alle mit dem gleichen Ausdruck nackten Entsetzens an, bis mir klar wird, dass ich es bin, die sie fürchten. Ich drehe mich um, da teilt sich der Hexenkreis, und ich blicke in einen riesigen Spiegel. Als ich sehe, was sich darin spiegelt, schreie ich, und davon werde ich endlich wach.
Dabei bleibt das Bild, das ich von den Hexen habe, seltsam vage, es variiert von Traum zu Traum. Manchmal tragen sie lange schwarze Kutten, zeitweise lavendelfarbene Businesskostüme, und ab und zu, in den dunkelsten Momenten, sind sie ähnlich gekleidet wie Frau Wurd jetzt, haben Hakennasen, Warzen und kleine, wache Vogelaugen.
Dennoch ist es eigentlich meine tiefste Überzeugung, dass es
keine Hexen gibt, nicht in unserer modernen Zeit. Keine Frage, es hat sie gegeben, früher, doch meiner Ansicht nach sind sie wie die Dinosaurier ausgestorben. Und es kommt mir absurd vor, dass sich ein Relikt aus einer weit entfernten Vergangenheit erhalten haben soll.
Eben, da hast du es. Also behalte bitte deine oberflächlichen Ansichten für dich! Nur weil ihre Nase womöglich ein bisschen krumm …
Da dreht sich Sibylle Wurd zu mir um, lächelt zahnlos, aber freundlich und nickt mir
Weitere Kostenlose Bücher